Ganz allein in der Nacht
von Kai Brauns
Nur relativ wenige Planeten in der bekannten Galaxis besaßen Ringe. Solche Planeten waren etwas besonderes. Die meisten Menschen, und auch Vertreter anderer Völker, sprachen dem Anblick eines Planeten mit Ringen große Schönheit zu. Als Touristenziele waren solche Planeten sehr gefragt. Es war schon ein majestätischer Anblick, einen solchen Planeten vom Weltraum aus zu beobachten. Aber wenn man es sich leisten konnte, eine Kolonie auf einem solchen, von Natur aus meist eher lebensfeindlichen Planeten zu besuchen, so war die Aussicht auf einen gigantischen Bogen weit über den Himmel hinweg erhebend wie kaum ein anderer.
Unter diesen wenigen Planeten mit Ringen war Proxima II wiederum etwas besonderes. Sein Ring bestand nicht aus Kometen und Asteroiden, welche von einem Gravitationsfeld in dieser Ringform gefangen waren. Der Ring von Proxima II war von den Völkern der Milchstraße in Gemeinschaft erbaut. Die Raumstation GOOD HOPE II, im Raum der Terran Alliance, Sitz des Rates der Vereinten Planeten, war das beeindruckendste Bauwerk in der bekannten Geschichte aller Völker. Es war ein Prestigeprojekt gewesen, ein Wunder von einem Bauwerk als Sitz des Friedens und der Verständigung unter den Völkern, die noch unter den Traumata des damals frisch im Gedächtnis gebliebenen Zweiten Galaktischen Krieg.
Bei ihrer Antrittsrede zur Einweihung von GOOD HOPE II und dem Rat der Vereinten Planeten hatte Botschafterin Marina Christian den Idealismus und die Aufbruchstimmung in ein Zeitalter des Friedens vermittelt. „Hier werden wir für Diplomatie, Verständnis und Einigung eintreten, in neuer, guter Hoffnung.“ Das war am 12. Mai 2167. Die Euphorie hielt nicht lange an. Bereits ein Jahr später kam es zu einem Eklat zwischen der Terran Alliance und dem Kemmer, dem Volk der Dilli. Vom 12. bis zum 25. Mai 2168 hing die Furcht vor einem Krieg mit Massebeschleunigern über der Galaxis. Die Lage entspannte sich, doch bereits im Spätsommer 2170 begann für die Terran Alliance ein weiterer Konflikt. Sie führte Krieg gegen Rebellen auf Beren 5, einem Planeten des Philion-Imperiums. Es hatte ein kurzer und sauberer Krieg sein sollen. Doch noch immer war die Space Force auf Beren 5 stationiert, noch immer mussten sie gegen die kollektivistischen Rebellen kämpfen.
Auch heute noch. Marina Christian starrte durch das Sichtfenster in ihrem großen Büro auf die Sterne hinaus. Was war aus ihrer Friedensmission geworden? Niemand wollte Krieg, doch irgendwie schien er immer wieder zukehren. An diesem Tag musste Christian erneut mit den Selbstzweifeln fertig werden. Es war der 30. November 2176. Heute vor zwanzig Jahren geschah der Angriff auf Orion 7. Der Einsatz des Massebeschleunigers. Von Magneten angezogen wurden Asteroiden durch ein gigantisches Rohr geführt und am anderen Ende hinausgeschleudert. Und sie trafen ihre Ziele. Zwei Metropolen von Orion 7, Galart und Zunai waren dem Erdboden gleichgemacht worden. 719 Millionen Todesopfer. Die Moral der Heeldar, dem Volk von Orion 7, hatte diesen schweren Schlag, der grausamerweise als „Ende der Nacht“ in die menschlichen Geschichtsbücher einging, nicht überstanden. Der Zweite Galaktische Krieg war vorbei gewesen. Noch immer wurde Christian schlecht, wenn sie zu sehr über diese Dinge nachdachte, über all die Toten.
Eine Gedenkfeier war zu diesem Jubiläum geplant, zu Ehren der Opfer. Später war eine Feier zu diesem Jubiläum geplant, für das Ende des Krieges. Christian nahm Haltung an. Sie durfte nicht zu sehr über den Zynismus nachdenken. Es war hoher Besuch gekommen. Altpräsident Sergio Cartagia war ebenso auf der Station, wie Verteidigungsminister Anthony Refa. Von den Welten des Orion waren ebenfalls einige hohe Staatsvertreter angekommen.
Die Botschafterin erkundigte sich über den Telepathen an ihrer Schläfe nach der Uhrzeit. In weniger als einer Stunde würde sie sich mit Cartagia, Refa und einigen anderen „hohen Tieren“ treffen, ein offiziell inoffizieller Empfang. Manchmal hasste sie ihr Leben als Diplomatin.
Die Kneipe war klein, nur wenige Gäste saßen darin. Drei jüngere Unteroffiziere der Space Force saßen an einem Tisch und spielten Karten. In einer Ecke, die vom Eingang aus kaum zu sehen war, saß jemand. Als Martin Beth in der Tür stand und sich umsah, konnte er die Person nicht erkennen, aber er musste sicher gehen. Er hatte einen weiten Weg hinter sich, und alles, um diese eine Person zu finden. Also trat der Mann näher. Schließlich stand er vor dem Tisch des Einsamen. Der Mann saß zusammengesackt in der Eckbank, die rechte Hand spielte mit seinem fast leeren Glas. Die Augen waren müde, die Haare unordentlich und ein wild wuchernder Bart bedeckte das Gesicht.„Darf ich mich setzen?“
„Lassen Sie mich in Ruhe,“ kam die genervte Antwort.
Beth dachte nicht daran, dieser Aufforderung Folge zu leisten. Stattdessen setzte er sich auf den Stuhl gegenüber des Anderen. „Sean Graves, wenn ich nicht irre.“
Graves blickte den Neuankömmling mit müden Augen an. „Sie war'n auf der Suche nach mir,“ stellte er fest. „Wer sind Sie?“
Der jüngere Mann lehnte sich vor. „Mein Name ist Martin Beth. Ich recherchiere für ein Buch über die Regierung.“
„Martin Beth,“ wiederholte Graves den Namen. „Sie sind Offizier der Space Force, vor einigen Jahren außer Dienst gestellt worden, nur kurz nach der Beförderung zum Captain. Sie waren maßgeblich in die CAWDOR-Affäre beteiligt und haben später ein Buch über den Vorfall geschrieben. Sie gelten als Missionar. Einst ein gehorsamer und loyaler Soldat, der nun ins andere Extrem verfallen ist und sich als militär- und regierungskritischer Journalist bemüht.“
„Sie haben Ihr Handwerk offenbar noch nicht verlernt, Mr. Graves,“ bemerkte Beth.
Der heruntergekommene Graves verzog sein Gesicht zu einem bitteren Grinsen. „Und über mein Handwerk möchten Sie mit mir reden.“
„Darüber,“ bestätigte Beth. „Und über Ihre Gründe, von Ihrem Amt zurückzutreten und unterzutauchen.“
Graves nickte abwesend. „Na schön. Ich rede mit Ihnen. Bringt ja doch nichts, es für mich zu behalten.“ Durchatmend fuhr sich Graves durch die Haare. „Nach dem Ende des Zweiten Galaktischen Krieges stand mir die Welt offen. Ich war eine große Hilfe bei der Entwicklung des Massebeschleunigers, und so wurde ich in den Jahren nach dem Krieg vom kleinen Spion immer wieder befördert. Irgendwann war ich dann an der Spitze des STI. Und ich sage Ihnen, auf dem Weg an die Spitze einer solchen Organisation bekommt man Dinge zu sehen, dagegen sieht die Arbeit eines Spions aus wie ein Spiel im Kindergarten. Doch ich hatte mich arrangiert. Ich war kein verblendeter Idealist, der darauf hoffte, die Menschheit ins Paradies zu führen. Nein, ich wollte einfach nur für die Sicherheit der Terran Alliance sorgen. Und an der Spitze des STI dachte ich, dass ich endlich etwas bewegen könnte, dass ich dieses Wettrüsten mit den Dilli beenden könnte.“ Graves unterbrach sich und trank den Rest seines Glases leer. Das leere Glas besah er sich mit traurigen Augen.
Beth erkannte den Wink mit dem Zaunpfahl und bestellte beim Wirt ein weiteres Glas von dem Getränk. Er wusste es nicht genau, aber er schätzte, dass es sich um Whisky oder ein sonstiges hochprozentiges Getränk handelte. Inzwischen wurde ihm der alkoholgetränkte Geruch am Tisch äußerst unangenehm. Bislang hatte er aus Höflichkeit nichts sagen wollen, doch nun fürchtete er, der Gestank würde auch ihn selbst alkoholisieren. „Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich etwas Contra-Smell versprühen würde,“ fragte er vorsichtig.
Graves blickte ihn etwas peinlich berührt an. Doch sein Gesichtsausdruck änderte sich, als hätte der Mann entschieden, die Angelegenheit im Verhältnis als Lappalie abzutun. Und so nickte er nur. „Bei meinen Drinks kommt's mir eh nicht auf den Geschmack an.“
Christian hatte ihr bestes falsches Lächeln aufgesetzt, als Sergio Cartagia den Konferenzraum betrat. Es war das erste Mal, dass Christian den Altpräsidenten persönlich traf, und sie hätte gerne darauf verzichtet. „Mr. Cartagia, es ist mir eine Ehre, Sie kennen zu lernen,“ log sie.
Der alte Mann reichte ihr die rechte Hand. „Botschafterin, ich habe sehr viel Gutes über Ihre Arbeit hier im UP-Rat gehört,“ sagte er mit einem Lächeln. Dann wandte Cartagia sich dem bereits sitzenden Verteidigungsminister zu. „Admiral, es ist mir wie immer ein Vergnügen.“
Refa sah den einstigen Führer der Terran Alliance mit seiner üblichen süffisanten Art an. „Mr. President,“ genügte ihm als Begrüßungsfloskel.
Ein junger Mann vom Dienstpersonal kam mit drei gefüllten Sektgläsern auf einem Tablett an den Tisch und bot jedem der drei Politiker eines der Gläser an. Daraufhin zog er sich schnell wieder zurück.
Cartagia erhob das Glas. „Auf das Ende des Krieges und die darauffolgende Ära des Friedens.“
Christian quälte sich ein bestätigendes Lächeln ab und stieß mit den beiden Herren an.
„Die Ära des Friedens könnte jedoch jeden Augenblick vorbei sein,“ entgegnete Refa, noch bevor er einen Schluck aus seinem Glas genommen hatte. „Das Wettrüsten mit den Dilli wird über kurz oder lang in einen heißen Krieg führen.“
Christian seufzte. „Herr Minister, wenn wir aus der Vergangenheit eines lernen können, dann dass man sich nicht auf einen einzigen Krisenherd konzentrieren und alle anderen ignorieren darf. Und bei allen diesen Krisenherden, seien es die Dilli, Beren 5 oder die Situation auf Remear, sollten diplomatische Bemühungen zur Sicherung des Friedens im Vordergrund stehen.“
„Ersparen Sie mir ihren ideologischen Unsinn, Botschafterin,“ sagte Refa schroff. „Den letzten Galaktischen Krieg haben wir ohne diplomatische Friedensmission gewonnen und seitdem sind Orion 4 und 7 nicht nur keine Bedrohung mehr, sondern unsere Verbündete.“
Die Diplomatin verkniff sich eine scharfe Antwort. An diesem Kriegstreiber war jedes Argument vergeudet.
Aiko Takarada, eine junge Assistentin der Botschafterin trat ein. „Verzeihung, Mr. President, Herr Minister, Botschafterin,“ sie legte eine Pause ein um durchzuatmen. „Die Presse ist eingetroffen.“
„In Ordnung, Miss Takarada,“ sagte Christian freundlich. „Schicken Sie sie rein.“ Sie stellte das Glas auf den Tisch vor sich, schloss einen Moment die Augen, um sich zu sammeln und hob den Blick zu den Reportern mit ihren größeren Aufzeichnungs-Telepathen, als sie durch die große Tür hereinkamen und sich auf der gegenüberliegenden Seite aufstellten. Die Tür schloss sich wieder und die Diplomatin blickte mit einem Lächeln in die Gesichter der Journalisten. „Willkommen, meine Damen und Herren. Heute ist der Jahrestag eines großen Ereig...“ Sie unterbrach sich und ihr Lächeln verschwand, als die Lichter ausgingen.
„Ich kann nicht weiter reden,“ wehrte Graves ab.
„Aber was ist aus Ihren Plänen geworden,“ wollte Beth wissen.
Graves lehnte sich mit ängstlichem Gesichtsausdruck vor. „Wenn ich deren Existenz verrate, wenn die Öffentlichkeit von ihnen erfährt, dann wird das Ende anbrechen.“
Beth starrte den heruntergekommenen Geheimdienstler betroffen an. „Wer sind die?“
„Sie dürfen nichts davon weitergeben,“ forderte Graves.
Beth nickte. „In Ordnung!“
Mit zittrigen Händen griff der ältere Mann nach seinem Glas. „Sie erinnern sich vielleicht an die Ausgrabungen im Ardini-System.“
War Beth bislang noch nicht hundertprozentig bei der Sache, nun war er es. „Ich war noch als Offizier auf der CAWDOR, als wir das Ausgrabungsteam begleiteten. Das Ardini-System liegt sehr nahe am Hoheitsgebiet vom Kemmer. Kurz bevor der leitende Professor uns von einer wichtigen Entdeckung berichten konnte, tauchte ein fremdartiges Raumschiff auf. Es war wie ein Lebewesen, schwarz, mit sich ständig bewegenden Tentakeln. Sie feuerten einen Strahl auf die Ausgrabungsstätte ab. Die CAWDOR konnte mit Müh und Not entkommen.“
„Weil das Kumaier-Attentat am selben Tag stattfand, wurde der Sache keine große Beachtung geschenkt,“ fuhr Graves an Beths Stelle fort. „Wen es doch interessierte, dem wurde gesagt, es handele sich um eine neue Waffe der Dilli.“ Er nahm noch einen Schluck aus seinem Glas. „Von Ihnen und der Ausgrabung im Ardini-System erfuhren sie von mir.“
Beth starrte den alten Mann entsetzt an. Er wollte sofort nachhaken, doch bevor er einen Ton herausbringen konnte, gingen die Lichter aus. Die Notstromversorgung wurde eingeschaltet und verlieh dem Raum einen dunkelroten Lichtschein. Schlagartig war Beth klar, dass dieser Stromausfall kein Unfall war. Die Station war so gut gegen Überladungen und sonstige Gefahren abgesichtert, dass Kurzschlüsse unnötig waren. Die Energiezufuhr war absichtlich abgebrochen worden. „Warten Sie hier,“ sagte er mit bestimmendem Tonfall zu Graves. Nun stand er auf, blickte sich in dem dunklen Raum um und ging ein paar Schritte auf die Tür zu.
„Ich bekomme keinen Kontakt nach draußen,“ sagte Christian mit nervöser Stimme.
„Ich auch nicht,“ erwiderte Refa. „Ich nehme an, dass keiner hier im Raum seinen Telepathen nutzen kann.“
Es gab kein Widerwort. Es war also, wie der Minister gesagt hatte; der telepathische Funkkontakt war unterbrochen.
„Was sollen wir tun,“ fragte eine Reporterin mit latenter Panik in der Stimme.
Christian wollte einige Worte der Beruhigung sagen. Tatsächlich wusste sie aber nicht, was sie sagen sollte. Ihr war klar, dass jemand absichtlich die Energie für diesen Sektor der Station unterbrochen hatte, und dass wahrscheinlich derselbe Jemand auch den Funkkontakt unterband. Hoffnung keimte in ihr, dass Captain Seagal, der Sicherheitschef der GOOD HOPE II, die Situation schnell unter Kontrolle bringen würde. Sie selbst fühlte sich trotz ihrer einstigen militärischen Laufbahn nicht imstande, gegen etwaige Aggressoren vorzugehen. Und Gott bewahre, dass Refa die Führung übernehmen wollte.
„Wir haben es mit einem feindseligen Akt zu tun,“ ließ der Verteidigungsminister die anwesenden Personen an seiner Vermutung teilhaben. „Die Frage ist, um wen es sich bei den Aggressoren handelt und was ihr Ziel ist. Ich denke, dass es sich mit größter Wahrscheinlichkeit um Terroristen im Auftrag der Dilli handelt, und dass die prominentesten Staatsvertreter an Bord ihr Ziel sind: Wir.“
Christian sah Refa vor ihrem geistigen Auge schon die Waffenverteilen, deshalb musste sie spätestens jetzt etwas sagen: „Wir sollten uns ruhig verhalten. Das Sicherheitspersonal wird sicher bald auftauchen.“
„Was ist mit MEINEM Sicherheitspersonal,“ fragte Cartagia.
Christian suchte in der Dunkelheit nach dem Antlitz des einstigen Präsidenten, doch das wenige Sternenlicht, welches durch das Panoramafenster in den Raum fiel, reichte nicht aus. „Ihre Leibwache,“ dachte Christian laut. „Sie sollten vor der Tür sein. Warum kommen sie nicht herein, um sich nach Ihnen zu erkundigen?“
Genau in diesem Augenblick öffnete sich die Tür. Bedrohliches, dunkelrotes Licht war nur als Reflexion auf einem massigen, beharrten Körper zu sehen. Große, vom Sicherheitslicht des Korridors erleuchtete Augen starrten die Menschen in dem Raum an. Große Raubtierzähne prangten in einem breiten Maul. Und zwei gewundene Hörner ragten aus dem Kopf. Ein muskulöses Armpaar präsentierte sich an den Seiten des mächtigen Oberkörpers, in der linken Pranke hing der schlaffe Körper eines Mannes, der die Uniform der persönlichen Leibgarde wichtiger Staatsangehöriger der Terran Alliance trug, die rechte Pranke hielt ein Projektilgewehr, welches trotz der altmodischen Technik noch immer dazu in der Lage sein musste, jede Person im Raum binnen weniger Sekunden zu verwunden oder zu töten. An der Schläfe trug die zentaurenhafte Kreatur einen handelsüblichen Telepathen. Und zur Überraschung aller Anwesenden sendete dieser eine Nachricht, die alle anderen Telepathen im Raum klar und deutlich empfangen konnten. „Mein Name ist K'chao'Pa von den Heeldar. Meine Verbündeten und ich sind hier, um die Vernichter von Galart und Zunai, die Mörder von 719 Millionen Heeldar, darunter 680 Millionen Zivilisten, der Gerechtigkeit zuzuführen.“
Beth war auf den Korridor vor der Kneipe hinausgetreten und versuchte, so viel wie möglich bei diesen Lichtverhältnissen zu erkennen. Als er am Ende des Korridors Bewegung erkannte, tat er sein bestes, um unsichtbar zu bleiben. Die Bewegung kam näher, und schließlich identifizierte Beth den Ursprung als zwei bewaffnete Orioner, den Hörnern nach zu urteilen Heeldar. Sie beachteten ihn nicht, sondern gingen schnurstracks in die Bar. Beth wartete ein paar Augenblicke ab. Er hörte Knurren und eine menschliche Stimme. Es war Graves. Hektisch wühlte Beth in seiner Jackentasche, bis er die kleine Dose Contra-Smell gefunden hatte. Das Anti-Geruchsspray, welches eigentlich ein alltägliches Hygieneprodukt war, würde seinen Körpergeruch absorbieren und ihn so für die Heeldar, welche bessere Nasen als Augen hatten, beinahe unsichtbar machen. Schnell sprühte er sich ein und steckte die Dose wieder weg, als die beiden Heeldar, Graves vor sich hertreibend, aus der Kneipe kamen und in Richtung des diplomatischen Sektors gingen. Darauf achtend, möglichst keine lauten Geräusche zu verursachen, machte sich Beth daran, ihnen zu folgen.
Einer der Heeldar hatte eine Stehlampe mit unabhängigem Energiespeicher aufgestellt. Endlich konnte man etwas mehr erkennen. Christian zählte nun fünf Heeldar im Raum, alle mit Projektilgewehren bewaffnet. K'chao'Pa stand in der Mitte des Raumes. Die Reporter saßen zusammen in einer Ecke während Christian, Cartagia und Refa an ihren Plätzen mit dem Rücken zum Sichtfenster saßen.
„Worauf warten Sie noch,“ fragte Refa barsch.
K'chao'Pa wandte sich zu ihm um und knurrte etwas. Der Telepath an seiner Schläfe übersetzte: „Geduld, Admiral. Einer Ihrer Komplizen kommt noch.“ Daraufhin drehte er sich wieder um und knurrte seinen Leuten etwas zu. Zwei traten wieder hinaus und kamen wenig später mit einem großen Gerät wieder herein. Der Apparat, welcher von Form und Größe her an ein metallisches Bierfass erinnerte, war ein Hyperfunkgerät.
„Sie wollen eine Nachricht versenden,“ stellte Christian fest.
„Eine Botschaft,“ knurrte K'chao'Pa. „Die Bevölkerungen des terranischen Territoriums, des Orion-Systems und der Dilli sollen wissen, was hier geschieht, und vor allem warum.“
In diesem Moment kamen zwei weitere Heeldar herein, und mit sich brachten sie einen ziemlich heruntergekommenen Mann, offenbar ein Säufer und Korridorschläfer. Irgendwie kam er Christian bekannt vor, doch sie wusste ihn nicht recht einzuordnen. Möglicherweise hatte sie ihn das eine oder andere Mal auf den Korridoren gesehen, aber das würde nicht erklären, warum die Heeldar an ihm interessiert waren. Wer war er bloß?
„Gut,“ knurrte der Anführer der Terroristen. „Wir sind komplett. Botschafterin, da Sie nicht auf der Liste der Angeklagten stehen, dürfen Sie sich zu den Reportern gesellen.“
Christian starrte den großen Orioner an, während sie diese Option abwägte.
„Gehen Sie,“ sagte der Säufer. „Die wollen nur Cartagia, Refa und mich.“
Auch die Stimme kam Christian bekannt vor, doch war sie von seinen Worten überrascht. Wenn dieser Mann tatsächlich zu Cartagia und Refa gehörte, wenn er tatsächlich etwas mit dem „Ende der Nacht“ zu tun hatte, warum war er dann um das Wohlergehen von jemand anderem besorgt? Christian wusste es nicht, aber es gab diverse Möglichkeiten, wie ein guter Mann in solche Umstände geraten konnte. Langsam stand sie auf und ging zu den Reportern hinüber.
„Was versprechen Sie sich hiervon,“ fragte Christian.
K'chao'Pa brauchte einen Moment, bis er bemerkt hatte, dass die Frage an ihn gerichtet war. „Was wir uns davon versprechen?! Diese Männer haben Hunderte von Millionen von Heeldar getötet. Und sie wurden nie dafür bestraft.“ Er trat zu den drei Männern. „Der ehemalige Präsident Sergio Cartagia. Er befahl den Mord an unschuldigen Zivilisten, nur damit seine Soldaten unbehelligt blieben. Anthony Refa führte den Befehl nur zu gerne aus. Noch heute brüstet er sich damit, die letzte Schlacht des Krieges angeführt zu haben, er brüstet sich mit der Ermordung dieser Heeldar. Und schließlich Sean Graves. Ehemaliger Spion der terranischen Streitkräfte. Es hat etwas gedauert, aber schließlich haben wir herausgefunden, dass er es war, der die Pläne für den Massebeschleuniger aus den Forschungsinstituten von Orion 4 gestohlen hatte.“
Christian schluckte unwillkürlich. Dieser Mann war Sean Graves? Und er hatte den Massebeschleuniger erbeutet? Sofort stand die Botschafterin auf. „Er kam mit der DARLTON in das Territorium von Orion 4,“ hielt Christian fest.
K'chao'Pa wandte sich zu ihr um. „Sie erinnern sich also.“
„Ich war damals als Erster Offizier auf der DARLTON. Wir hatten den Auftrag, Graves über die Grenze zu bringen und ihn später wieder aufzulesen. Bis heute habe ich nicht gewusst, was für einen Auftrag er hatte.“
„Nun wissen Sie es,“ meinte der Terrorist. „Wir haben allerdings entschieden, dass Sie keine Schuld trifft, Botschafterin. Wir ahnten, dass Sie über den Inhalt von Mr. Graves Mission nicht unterrichtet wurden. Nach allem was wir wissen, waren Sie eine ehrenwerte Soldatin, und nach dem Krieg haben Sie den Opfern auf Orion 4 und 7 geholfen. Und auch Ihre Arbeit als Botschafterin haben wir aufmerksam beobachtet, um sicher zu gehen, dass Sie nicht doch zu diesem Haufen von Verbrechern gehören. Aber Sie waren stets um Versöhnung bemüht. Sie sind naiv, aber unschuldig.“
„Das ist doch lächerlich,“ rief Refa laut aus. „Es war Krieg. Orion 7 weigerte sich, zu kapitulieren. Wir haben lediglich den Krieg beendet.“
„Nein,“ erwiderte Graves leise. „Wir haben Unrecht getan. Wir haben uns eingeredet, die Heeldar hätten es nicht anders verdient. Aber letztendlich haben wir die Bevölkerung für das Handeln der Regierung bestraft. Zivilisten dürfen keine Opfer werden.“
„Hören Sie auf, Graves,“ fuhr Refa ihn an. „Es war Krieg, und im Krieg geschieht nun mal Leid. Man kann uns nicht für die Natur des Krieges verantwortlich machen. Wir waren nicht die Aggressoren dieses Krieges. Orion 4 und Orion 7 haben gemeinsam den Krieg begonnen, und die Heeldar waren es, die uns mit dem Angriff auf die erste GOOD HOPE mit hineingezogen haben. Wir sind die Guten! Wir wollten keine Zivilisten töten, aber die militärischen Anlagen waren absichtlich in der Nähe von zivilen Städten.“
„Dann hätten wir eben auf Orion 7 landen und die militärischen Anlagen direkt angreifen müssen,“ entgegnete Graves, der seinen Standpunkt immer lebhafter verteidigte. „Es hätte uns das Leben von Soldaten gekostet, aber das ist eben der Preis, wenn man auf der Seite der Guten sein will. Das Leben von Zivilisten ist im Krieg wertvoller als das von Soldaten. Die Soldaten sind dazu da, zu kämpfen, zu töten und zu sterben. Sie sind diejenigen, die den Krieg ausführen. Die Zivilisten ... sind unbeteiligt.“
Refa wurde offensichtlich wütend über die Äußerungen des ehemaligen Geheimdienstlers. „Wir hatten Jahre des Krieges hinter uns, Mann! Wir hatten nicht mehr die nötigen Streitkräfte, um diesen Krieg anders zu gewinnen.“
„Das ist eine Lüge,“ protestierte Graves. „Und das wissen Sie genau. Wir hatten noch genug Soldaten, wir hatten genug Schiffe, wir hatten genug Waffen. Was fehlte war der Wille. Wie Sie sagten, wir hatten Jahre des Krieges hinter uns. Wir hatten Orion 4 besiegt, der Krieg war eigentlich schon gelaufen. Wir hatten eigentlich schon gewonnen. Nur Orion 7 stand uns im Weg. Wir hätten die Macht dazu gehabt, den Krieg auf ordentliche Weise ohne großartige zivile Opfer zu beenden, aber wir wollten einfach nicht mehr. Wieso einen Krieg kämpfen, der schon entschieden ist. Die Heeldar hätten die vereinten Kräfte des restlichen Orion, der Dilli und uns nicht im Traum besiegen können. Aber sie hätten es dauern lassen. Sie hätten noch einige weitere Soldatenleben gefordert, die man den Menschen zu Hause irgendwie hätte erklären müssen. Wir hatten eine Wahl, Refa. Und wir wollten, dass es endlich vorbei ist.“ Der heruntergekommene Mann blickte den schweigenden Terroristenführer an. „Aber mit schnellen Lösungen ist es nie wirklich vorbei. Wir haben eine Schuld, und nun müssen wir sie bezahlen.“
„Meinen Respekt,“ knurrte K'chao'Pa. „Sie sind ein einsichtiger Mann, Mr. Graves. Wenn es nach mir ginge, ich würde Sie vielleicht leben lassen. Aber wir müssen ein Zeichen setzen, sonst wird mein Volk niemals mit diesem Trauma fertig.“
„Aber ist dies auch der richtige Weg,“ fragte Christian.
Beth stand am Rand zum diplomatischen Sektor im Licht einer der roten Lampen und schraubte an seinem Telepathen herum. Als er noch Sicherheitsoffizier war, hatte er einige Tricks aufgeschnappt. Bei der Blockade von Tau Ceti waren einige dieser Tricks recht nützlich gewesen, und als er investigativer Journalist wurde, hatte er seine Kenntnisse noch intensiviert. Nach gefühlten zehn Stunden war er soweit, befestigte den Telepathen wieder an seiner Schläfe und aktivierte ihn. „Martin C. Beth, Space Force Captain außer Dienst,“ sandte er. „Bitte melden.“
Vor Beths innerem Auge erschien das Bild eines stämmigen Mannes in einer Sicherheitsuniform der Space Force. „Hier ist Captain Bruce Seagal, Leiter der Sicherheit auf GOOD HOPE II, Sektor I. Wie haben Sie es geschafft, ihren Telepathen innerhalb der Störzone zu aktivieren?“
„Ich übermittle Ihnen den Vorgang,“ antwortete Beth und tat, wie er sagte. „Soweit ich mitbekommen konnte, hat eine bewaffnete Gruppe von Heeldar mehrere Geiseln im diplomatischen Sektor genommen. Sie dürften für den Energieausfall und die Telepathenstörungen verantwortlich sein.“
„Es wird eine Weile dauern, bis unsere Leute zu Ihnen stoßen können,“ meinte Seagal. „Ist es Ihnen möglich, uns weitere Informationen zu beschaffen?“
Beth nickte. „Ich habe noch ein paar Tricks auf Lager.“
K'chao'Pa blickte neugierig auf die Botschafterin herab. „Seit dem 'Ende der Nacht' ist mein Volk traumatisiert. Wir sind froh, dass wir die vorige Regierung los sind, wir sind froh, dass der Krieg vorbei ist. Aber wir wurden Opfer eines schrecklichen Verbrechens. Und die Täter bleiben straffrei, sind sogar noch in hohen Positionen. Wir müssen uns wieder frei entfalten können, aber wie können wir das tun, wenn wir diese Sache nicht beenden können?“
„Sie haben recht, K'chao'Pa,“ sagte Christian. „Die Schuldigen müssen bestraft werden. Aber nicht so. Und auch wenn sie bestraft sind, so wird Ihr Volk noch immer traumatisiert sein. Und es ist nicht nur das Trauma des Opfers, sondern auch das des Täters.“
„Übertreiben Sie nicht, Botschafterin,“ knurrte der Heeldar deutlich ungehalten. „Wir wissen, dass unsere Regierung nichts getan hat, um die Opfer vom 'Ende der Nacht' zu beschützen. Die Ablagerungen in der Atmosphäre hat noch viele weitere Tote gefordert, lange nach dem Ende des Krieges, und unsere Regierung hat nichts getan, um zu helfen. Aber hier geht es nicht um Regierungen. Es geht um das Volk. Und unser Volk verlangt nach Gerechtigkeit.“
Beth blickte sich um. Die Nachtsichtkamera an seinen Telepathen zu koppeln war relativ schnell gegangen. Aber er musste feststellen, dass er körperlichen Stress nicht mehr gewohnt war, und so krabbelte er die Belüftungsrohre entlang. Dabei musste er auch darauf achten, dass ihn außerhalb niemand hörte. Rechts vor ihm war ein Gitter, das dritte an dem er vorbei kam. Aber dieses war das richtige. Er sah die Journalisten, die Heeldar und die vier wichtigen Geiseln. Stumm schickte er an Seagal eine telepathische Nachricht: „Ich bin in Position.“
Christian stand auf. „Gerechtigkeit ist allerdings keine Einbahnstraße. Während des Krieges, während der Herrschaft von Er'Kar auf Orion 4 und P'orr'Te auf Orion 7 sind die auf diesen Planeten lebenden Illiar systematisch verfolgt und getötet worden. Und nicht nur sie. Orion 4 und 7 hat während dieser Zeit fast zwei Milliarden Unschuldige in den Vernichtungslagern getötet. Und ja, es waren die Regierungen, die dies taten. Es waren nur wenige, die dafür waren. Aber das Volk wusste davon. Auch wenn es davon nichts wissen wollte, wenn es dieses Wissen geleugnet hat. Sie haben es gewusst. Nein, Sie und Ihre Leute haben diese Unschuldigen nicht ermordet. Aber sie haben es geschehen lassen. Und damit müssen Sie fertig werden. Sie haben eine gut koordinierte Schlagtruppe zusammengestellt, K'chao'Pa, aber Sie nutzen sie, um sich an den Anderen zu rächen. Mit all dem, was sie geleistet haben, um dies hier auf die Beine zu stellen, hätten Sie auch die noch frei lebenden Schuldigen Heeldar finden können. Aber Sie zogen es vor, die Außenweltler zu bestrafen. Sie wollen keine Gerechtigkeit, Sie wollen Ihr Volk nicht von seinem Trauma befreien. Sie wollen Rache.“
K'chao'Pa starrte sie weiterhin an. „Sie sind nicht so naiv, wie ich dachte. Wird wohl noch jemand anders brauchen, um die Heeldar und die Hildar von ihren Traumata zu befreien.“ Er wandte sich zu Refa um und erhob seine Waffe. „Es ist Zeit!“
Plötzlich brüllten die Heeldar vor Schmerz auf, ließen die Waffen fallen, krümmten sich. K'chao'Pa tastete nach seinem Telepathen, doch er war nicht im Stande, ihn zu entfernen.
Ein Gitter an der Wand brach heraus und ein Mann sprang heraus. Die Botschafterin brauchte einen Moment, um ihn zu erkennen. Es war Martin Beth. Sie hatte nicht gewusst, dass er überhaupt in diesem System war, geschweige denn auf GOOD HOPE II. Aber sie war dankbar.
Beth schnappte sich eine der Waffen und rief Christian und die anderen Geiseln auf, die weiteren aufzuheben und die Heeldar in Schach zu halten. Mit der freien Hand berührte er seinen Telepathen. Augenblicklich schien der Schmerz von den Heeldar zu lassen. „Freut mich, Sie wiederzusehen, Botschafterin,“ meinte Beth. „Ich hatte vor, Sie noch zu besuchen, aber nun sehen wir uns so.“
„Diese Angelegenheit wird Folgen haben,“ schrie Refa herum.
„Wird sie,“ hörten sie die Stimme von Graves.
Alle wandten erstaunt ihm zu. Niemand hatte es bislang bemerkt, dass er sich eine der kleineren Handfeuerwaffen genommen hatte. Die Mündung der Pistole hielt er sich an die Schläfe. „Egal, was die Heeldar noch aufzuarbeiten haben, wir sind schuldig. Ich bin schuldig. Und dies muss sein.“
Bevor irgendjemand reagieren konnte, hatte Graves abgedrückt. Ein Knall. Mit blutigem Kopf sank Sean Graves leblos herab.
Christian stürmte zu der Leiche, dicht gefolgt von Beth. Doch sie konnten nichts mehr tun.
Hinter ihnen, hinter dem großen Panoramafenster, tauchte gerade die Sonne des Proxima-Systems am Horizont auf. Ein neuer Tag begann.
Ende.