Okay, vielleicht erinnern sich hier noch einige an mein James Bond-Fanprojekt RETURN TO GLORY. Irgendwie kamen immer mehr Ideen dazu, und irgendwann habe ich entschieden, meinen eigenen Top-Agenten zu kreieren. Das Ergebnis ist John Bryce, Agent of SPIES (Secret Personnel for Intelligence and Enforcement Services). Die meisten Geschichten plane ich, als Comic einigen Verlegern anzubieten (ganz oben auf meiner Liste steht das britische Comic-Magazin CLiNT von Mark Millar), aber inspiriert durch einen Band von Krimi-Kurzgeschichten rund um Freiburg i. Brsg. habe ich zu Weihnachten eine Kurzgeschichte geschrieben, in der John Bryce eine Mission im Breisgau zu erfüllen hat. Ich hoffe, sie gefällt euch.
Viel Spaß beim Lesen, und Feedback ist absolut erwünscht.
Prolog
Dr. Jake Marley durfte eigentlich nicht hier sein. Niemand außer dem Chef durfte hier sein. Deshalb hatte Marley auch kein Licht in dem Büro, von dem Leuchten des Monitors abgesehen. Über sein Handy erhielt er Instruktionen. Fred Moore teilte ihm mit, wie er die Sicherheitseinrichtungen abschalten konnte. Dies lag eigentlich völlig außerhalb seines Aufgabengebiets. Marley war Geophysiker. Er war spezialisiert auf die Entstehung von Erdbeben. Das Hacken von Firmencomputern war etwas völlig neues für ihn. Komische Art, Heiligabend zu verbringen.
Endlich hatte er Erfolg. „Geschafft,“ flüsterte er ins Handy.
„Ich bin drin,“ bestätigte Fred am anderen Ende der Leitung. „Ich kopiere jetzt die Daten vom Firmenserver. Ihr Job ist erledigt, Jake. Machen Sie, dass Sie rauskommen!“
Marley nickte instinktiv, obwohl Fred ihn natürlich nicht sehen konnte. „In Ordnung,“ sagte er noch. „Ich komme jetzt zu Ihnen.“ Damit legte er auf, steckte das Handy weg und schaltete den Monitor ab. Auf dem Weg nach draußen bemühte er sich, von den Fenstern weg und in den Schatten zu bleiben.
Schließlich erreichte er den Ausgang. Draußen war es bitterkalt. Es schneite. Schnee hatte sich über die vergangenen Tage über den Parkplatz, die Dächer und die Straßen gelegt. Trotz der Kälte beeilte Marley sich, aus dem Licht der Laternen des Parkplatzes heraus und durch die Schatten auf die Straße zu kommen. Hier fühlte er sich sicherer.
Es war weit und breit niemand zu sehen. In dieser Gegend von Freiburg war um diese Zeit nicht viel los. Die Hans-Bunte-Straße war fast vollständig Industriegebiet. Weiter oben, am nördlichen Ende gab es noch eine Diskothek, aber der Lärm war weit weg und kaum zu hören.
Plötzlich hörte Marley ein klackendes Geräusch hinter sich. Erschrocken wandte er sich um. Da ging jemand, außerhalb des Lichtkegels der Straßenlaterne. Das Klacken wiederholte sich in regelmäßigem Abstand von drei Sekunden. Schließlich erreichte der Unbekannte den Lichtkegel. Der Blindenstock, die Sonnenbrille und die Armbinde ließen ihn aufatmen. Der Mann war blind, wahrscheinlich auf dem Weg zu einer der wenigen Wohnungen in dieser Gegend. Marley drehte sich wieder seinem Weg zu und ging weiter. Er richtete seine Aufmerksamkeit nun auf andere mögliche Anzeichen von Gefahr. Das Nähern des klackenden Geräusches des Blindenstocks bekam er nicht mit. Erst als der Blinde direkt hinter ihm war, wurde er sich der Nähe des Unbekannten bewusst. Der Wissenschaftler in ihm bemerkte die Schnelligkeit des Unbekannten trotz dessen Behinderung. Sollte der Blinde nicht vorsichtiger laufen?
Da hörte er ein schneidendes Geräusch hinter sich. Er wandte sich um und sah gerade noch, wie der Blinde seinen Stock erhob, aus dessen Ende auf einmal eine Klinge ragte, bevor er einen stechenden Schmerz im Hals spürte. Die Klinge steckte bis zum Anschlag unter Marleys Adamsapfel und durchschnitt Luft- und Speiseröhre. Marley schmeckte Blut. Er schnappte vergeblich nach Luft.
Mit einem Ruck zog der Blinde die Klinge aus Marleys Hals und der Geophysiker fiel röchelnd zu Boden. Mit einem Tuch wischte der Mann das Blut von der Klinge, und auf einen Knopfdruck verschwand sie wieder im Innern des Stocks. Er ging in die Hocke und betastete Dr. Marley, suchte den Arm, das Handgelenk, den Puls. Noch ein paar Mal schlug der Puls, dann war er still. Zufrieden stand der Blinde wieder auf. Er ging weiter, dem Klacken seines Stocks auf dem Asphalt folgend. Er konnte nicht sehen, wie Marleys Blut den Schnee rot färbte. Er konnte nicht sehen, wie der Schnee vom Himmel auf Marleys Körper fiel und ihn immer mehr unter sich begrub.
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1
Es war der 28. Dezember, Weihnachten war gerade vorbei, als John Bryce am Freiburger Hauptbahnhof aus dem Zug aus Basel stieg. Er wusste noch nicht viel über seinen Auftrag: Dr. Marley war vor drei Tagen im nördlichen Stadtteil tot aufgefunden worden, und er sollte Kontakt zu zwei örtlichen Agenten der deutschen Partnerorganisation aufnehmen. Marley war vor einigen Jahren in einen Fall verwickelt, den Bryce bearbeitet hatte. Marley hatte ihm damals geholfen, einen nuklearen Anschlag zu vereiteln. Ohne Marley hätte Bryce es damals wohl nicht geschafft.
Es war ein Zimmer für ihn im Colombi-Hotel nicht weit vom Bahnhof entfernt reserviert. Hätte Bryce gewusst, wie nahe, hätte er sich das Taxi wahrscheinlich gespart und wäre die kurze Eisenbahnstraße zu Fuß gegangen.
Nachdem man ihm sein Zimmer gezeigt und sein Gepäck hinaufgebracht hatte, nahm der Engländer ein kleines Gerät aus seiner Manteltasche. Er prüfte den Raum sorgfältig, betrachtete die Messanzeige des Gerätes an jedem Ort, auf den er es richtete. Der Raum war sauber. Eine Seltenheit. Normalerweise hatte Bryce zumindest zwei oder drei Wanzen zu entfernen, bevor er sich entspannen konnte.
John Bryce lebte ein Leben der Gefahr. Und so mochte er es. Er war ein Agent des Secret Personnel for Intelligence & Enforcement Service, einer geheimen Untersektion des MI-6. SPIES war der Öffentlichkeit zwar ein Begriff, doch nur wenig war über die Organisation bekannt. Und jene, die mehr als nur Bruchstücke wussten, wollten Agenten wie Bryce normalerweise an den Kragen. Aber so gefiel es ihm. Er war der Beste in seinem Feld, und er liebte seine Arbeit.
Kaum hatte Bryce sich seines Jacketts entledigt und auf dem großen Bett niedergelassen, als das Telefon klingelte.
„Hier ist die Rezeption, Herr Bryce,“ sagte die freundliche, gezwungen dialektfreie Stimme am anderen Ende. „Wir haben eine Nachricht von Ihrer Tante Catherine für Sie.“
Bryce war ganz Ohr. Hinter Tante Catherine verbarg sich General Lee Bernard, innerhalb der Organisation C genannt. Er war der Leitende Direktor von SPIES. Natürlich hatte C die Nachricht nicht selbst hinterlassen, sondern hatte diese Aufgabe wahrscheinlich Brian Treeman, seinem Chief of Staff, überlassen. „Wie lautet die Nachricht?“ fragte Bryce.
„Ihre Tante bittet Sie, ihr ein Paar Schuhe von einem Laden in der Altstadt zu besorgen. Das Geschäft heißt Adrastea. Soll ich Ihnen die Adresse raussuchen?“
Adrastea Schuhe & Stiefel war ein ansprechender kleiner Laden in der Nähe des Augustinerplatzes. Der geringen Größe des Verkaufsraums und der hohen Qualität des angebotenen Schuhwerks nach zu urteilen vermutete Bryce, dass die Kundschaft größtenteils zur oberen Mittelschicht gehörte und eine exklusive Atmosphäre schätzte.
Hinter einer kleinen Theke tauchte auf einmal jemand auf. „Guten Tag, der Herr,“ sagte die Frau mit freundlicher Stimme. „Kann ich Ihnen helfen?“
Bryce musterte die Dame. Eine reifere Frau mit dunkelrotem, welligem Haar und bezauberndem Lächeln und molligen Kurven. Bryce schätzte sie charmant agressiv ein. Ein Rasseweib. Nicht mehr ganz seine Generation, aber sollte er sich jemals auf eine Frau festlegen, würde er sich glücklich schätzen, wenn diese Frau ähnlich gut reifen würde, wie diese Dame.
Bryce lächelte auf seine eigene, verschmitzte Art an. „Guten Tag,“ sagte er und ärgerte sich über den Rest an Akzent, der ihn trotz seinem fließenden Deutsch als Engländer auswies. Den musste er vor seinem nächsten Undercover-Einsatz in diesem Land noch loswerden. „Mein Name ist Bryce. John Bryce. Meine Tante Catherine hatte ein Paar Schuhe bestellt.“
„Ah, richtig,“ sagte die Frau. „Bitte, folgen Sie mir doch.“ Mit einer einladenden Geste trat sie zurück hinter die Theke und durch eine Tür an der Seite. Bryce folgte ihr und fand sich in einer Kammer wieder. Das Rasseweib betätigte einen unsichtbaren Knopf in der Wand und eine neue Wand schob sich vor die offene Tür. Bryce spürte, wie die Kammer sich in Bewegung setzte und nach unten absenkte. Das Rasseweib streckte Bryce die Hand entgegen. „Sigrun Aurora,“ stellte sie sich vor.
Bryce ergriff sanft die Hand und drückte ihr einen höflichen Kuss auf. „Sehr erfreut,“ lächelte er.
Die Kammer stoppte und die Tür war wieder frei. Sie traten hinaus und fanden sich in einem großen Raum mit allerlei Computern und Monitoren wieder. Auf einem sehr bequem wirkenden Bürostuhl saß ein Mann, der aufmerksam eine Reihe von Monitoren betrachtete. Seine Ohren waren von einem Paar Kopfhörern verdeckt. Sigrun Aurora trat an ihn heran und legte die Hand auf seine Schulter. Der Mann sah sie an, nahm die Kopfhörer ab und strahlte sie an. „Hi,“ sagte er. „Was gibt’s?“ Er bemerkte Bryce und erhob sich aus seinem Stuhl. Die beiden Männer musterten einander.
John Bryce war Mitte 30, maß knappe 1,80 Meter und war athletisch gebaut. Sein kurzes, braunes Haar war in einem ordentlichen Seitenscheitel gekämmt. Mit seinen stahlblauen Augen und dem kantigen Gesicht, welches in attraktivem Kontrast zu seinem bübischen Lächeln lag, war er sicherlich ein Blickfang bei den Damen, wovon er, wie in seiner Akte vermerkt, Gebrauch zu machen wusste.
Ihm gegenüber stand Hermann Aurora, ein kräftiger Mann im fortgeschrittenen Alter. Sein Borstenschnitt und Bart waren bereits ergraut, doch ihn umgab eine Aura des Selbstbewusstseins. Er stach nicht hervor, doch dies schien seine Entscheidung zu sein, als wüsste er ganz genau, dass er nichts beweisen musste. Er wirkte gemütlich, doch auch immer bereit, in Aktion zu treten.
„Guten Tag, Herr Bryce,“ sagte Hermann Aurora und streckte dem Engländer die Hand zum Gruß entgegen. „Wir haben Sie bereits erwartet.“
Bryce schüttelte die Hand und nickte ihm höflich zu. „Sonder-Personal zur Informationsbeschaffung, Observation, Nachrichtensammlung und Ermittlungstätigkeiten, nehmen ich an.“
„Ganz recht,“ bestätigte Sigrun. „Wir sind die lokalen Observationsagenten.“
„Und Sie können mir hoffentlich mehr darüber erzählen, warum ich hier bin,“ vermutete Bryce.
„Sie wissen von Dr. Marleys Tod?“ fragte Hermann.
Bryce nickte. „Das ist aber auch schon alles, was ich weiß.“
„Dr. Marley arbeitete für eine Firma namens Convulsion GmbH, ein privater Betrieb, welches an der Entwicklung von Frühwarnsystemen für Erdbeben beteiligt ist.“ Hermann drückte eine Taste und auf einem der Monitore erschien die Internetseite von Convulsion. „Marley half einem Internetspion mit dem Codenamen Fred Moore, Daten vom internen Sicherheitsserver von Convulsion zu kopieren. Fred Moore hat kurz darauf Kontakt mit uns aufgenommen. Die Daten sind offenbar äußerst brisant was die globale Sicherheit angeht.“
„'Offenbar',“ wiederholte Bryce. „Sie haben die Daten noch nicht gesichtet?“
Sigrun seufzte. „Fred Moore fürchtet um die eigene Sicherheit. Wenn die Daten tatsächlich so brisant sind, ist Misstrauen auch durchaus verständlich. Fred wollte uns die Daten nicht zeigen.“
„Dann stehen wir vor einem Problem, würde ich sagen,“ meinte Bryce.
Hermann schüttelte den Kopf. „Fred wollte uns die Daten nicht zeigen. Ihnen allerdings schon.“
Nun wurde Bryce vieles klar. „Marley.“
„Er muss Fred wohl von Ihrer Begegnung in Singapur erzählt haben.“
„Deshalb hat SPIONE SPIES überhaupt miteinbezogen,“ kombinierte Bryce. „Es ging speziell um mich.“
„Fred will Sie persönlich treffen. Nur bei Ihnen fühlt sich dieser Hacker offenbar sicher.“
Bryce zog die linke Augenbraue in die Höhe. „Ich wusste nicht, dass Marleys Meinung über mich so hoch ist.“
„Dann machen wir mal ein Treffen für heute abend aus,“ sagte Hermann und setzte sich zurück in seinen Stuhl. „Möchten Sie einen bestimmten Treffpunkt wählen?“
Bryce dachte kurz nach. „Wie wäre es mit dem kleinen Park gegenüber von meinem Hotel.“
Plötzlich starrten die beiden Deutschen Bryce an, als hätte er etwas sehr dummes gesagt.
„Damit ich Sie richtig verstehe,“ hakte Sigrun ein. „Sie wollen sich im Colombi-Park nach Sonnenuntergang mit jemandem treffen, von dem Sie nicht wissen, wie er aussieht?“
„Naja,“ meinte ihr Mann. „Bei der Kälte dürften die üblichen nächtlichen Parkbesucher wahrscheinlich woanders sein.“
„Naja, schon möglich,“ meinte sie. „Aber das bedeutet, dass dort sowieso nur wenige Leute sein werden. Ein Treffen an einem öffentlichen Ort mit vielen Leuten dürfte sicherer sein.“
„Ein Restaurant,“ schlug Bryce vor.
„Das Harmonie wäre ein guter Ort,“ meinte Hermann. „Genug Leute, guter Treffpunkt und nahe genug, um Fred und die Daten schnell und möglichst gefahrlos hierher zu schaffen. Natürlich müsste Herr Bryce Fred erstmal davon überzeugen, herzukommen. Ich schicke eine Email an Fred.“
Sigrun nickte. „Gut, in der Zwischenzeit habe ich hier noch etwas für Herrn Bryce.“ Sie führte den Besucher durch eine Seitentür in eine größere Halle, die weitestgehend im Dunkeln lag. Nahe der Tür, unter einer kleinen Leuchte, stand ein Metalltisch, auf dem ein Mobiltelefon und ein Paar Manschetenknöpfe lagen.
„Ihr Quartiermeister hat ein paar Utensilien für Sie schicken lassen.“ Sigrun griff nach dem Handy. „Das Handy hat einen eingebauten Elektroschocker, Kapazität bis zu 750.000 Volt. Noch etwas: Wenn Sie den Code 777 -Send- eingeben, aktivieren Sie eine EMP-Funktion, ein Elektromagnetischer Impuls wird alle elektronischen Geräte innerhalb eines Radius von einem Kilometer auf Dauer lahmlegen.“ Sie reichte ihm das Telefon und er betrachtete es einen Moment.
„Hat es auch einen Nacktscanner?“ fragte Bryce scherzhaft.
„Den können Sie sich selbst runterladen,“ konterte sie. Nun nahm sie die Knöpfe in die Hand und hielt sie Bryce entgegen. „Aus dem einen Knopf können Sie eine Flüssigkeit herausspritzen, vorzugsweise in das Getränk eines Gegenübers. Die Flüssigkeit ist leicht radioaktiv. Nicht gefährlich, aber man kann diese Strahlung orten. Bleibt für eine Woche im Körper, wird danach auf natürliche Weise abgebaut.“
„Wenn ich Sie also später mal wiederfinden will, muss ich Ihnen nur dieses Zeug spritzen?“
„Sie können es ruhig versuchen,“ meinte die Spionin. „Aber ich achte sehr darauf, was ich trinke.“
„Sie wollen also nicht, dass ich Sie wiederfinde?“
„Ich bin glücklich verheiratet,“ erwiderte sie. „Und außerdem sind Sie nicht mein Typ.“
„Und das werde ich mir nie verzeihen,“ sagte Bryce und legte seine Hand über sein Herz.
„Ich schlage vor, Sie verwenden die Knöpfe bei Fred.“
Bryce hob eine Augenbraue. „Wenn Sie diesen Eindruck von mir haben, verstehe ich, warum Sie meinen, ich sei nicht Ihr Typ.“
„Benehmen Sie sich gegenüber Ihrem Quartiermeister auch so?“
„Egal, welchen Eindruck Sie von mir haben, Major Desmond ist definitiv nicht mein Typ. Was ist mit dem anderen Knopf?“
„Darin ist eine Bombe versteckt.“
Bryce blickte die beiden Manschetenknöpfe neugierig an. „Welcher Knopf tut was?“
„Viel Spaß beim rausfinden,“ grinste Sigrun.
„Danke,“ sagte Bryce, nahm die Knöpfe entgegen und brachte sie an seinen Manscheten an. „Wo ist der Wagen?“
Sigrun blickte ihn überrascht an. „Sie sind gut.“ Sie drückte einen Schalter neben der Tür und die Halle erstrahlte im aufkommenden Deckenlicht. Einige Dutzend Meter entfernt stand ein nagelneuer, schwarzer Sportwagen. „Der Wagen ist mit allerlei versteckten Waffen ausgerüstet, und wir überlassen ihn Ihnen nicht so einfach.“
Bryce sah sie fragend an.
„Sie kennen die Hauptdirektive von SPIONE. Wir beobachten, wir leiten Informationen weiter, aber wir mischen uns nicht ein. Dafür haben wir andere Institutionen.“
„Ich gehöre aber nicht zu SPIONE,“ merkte Bryce an.
„Nein, aber Sie sind als unser Gast hier,“ stellte Sigrun klar. „Sie werden hier sicherlich keine wilden Verfolgungsjagden abhalten, sondern sich an unsere Regeln halten. Selbst das Handy werden Sie nur im absoluten Notfall einsetzen.“
„Wenn ich ein Taxi brauche, gilt das als Notfall?“
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2
Das Restaurant Harmonie war ein angenehmes Restaurant für die Mittelschicht und durch die unmittelbare Nähe zum gleichnamigen Kino häufig von Filmliebhabern besucht. Bryce gefiel zumindest die Atmosphäre, wenn auch die Bedienung, ein junger Mann mit schwarzem Haar und wenig Interesse an Umgang mit den Gästen, sehr zu wünschen übrig ließ. Er hielt aber die Augen und Ohren offen, um mögliche Gegenspieler zu entdecken. Doch das Ungewöhnlichste war noch eine größere Gruppe, die sich angeregt über irgendeinen Doktor und Leute mit Namen wie Perry, Bully und Gucky unterhielten. In dieser Gruppe waren auch zwei Gäste, die ihn irgendwie an die Auroras erinnerten. Ansonsten gab es einige Pärchen und einen einsamen Blinden. Dieser Blinde kam Bryce irgendwie bekannt vor, aber er konnte ihn noch nicht ganz zuordnen. Er würde ihn aber erstmal im Auge behalten.
John Bryce hatte sich für die Wartezeit ein Glas Badischen Rotwein Jahrgang 2004 bestellt, ein guter wenn auch unspektakulärer Wein. Nun wartete er auf die blaue Sonnenbrille. Dies war das Erkennungsmerkmal, auf das er sich mit Fred Moore geeinigt hatte.
Es war ein paar Minuten nach neun, als eine junge Frau an Bryces Tisch herantrat. Bryce, der sie erst jetzt bemerkte, blickte an ihr hoch und war überrascht, außer den kurzen dunklen Haaren und dem wunderschönen Gesicht eine blaue Sonnenbrille zu finden..
„John Bryce?“ fragte die Dame nach.
John stand umgehend auf und verbeugte sich knapp vor der Frau. „Guten Abend! Verzeihen Sie meine Überraschung, aber ich hatte bei Ihrem Namen nicht mit einer Dame gerechnet.“ Er nahm ihr den Mantel ab, wobei er sich einen Augenblick Zeit nahm, ihre Figur in dem schwarzen Kleid zu bewundern, und hielt ihr den Stuhl zurecht.
Sie lächelte ob der höflichen Gesten. Als er wieder Platz nahm und sie sich nun Angesicht zu Angesicht gegenübersaßen, nahm sie ihre Brille ab und enthüllte zauberhafte braune Augen. „Es ist ein Username. Mein richtiger Name ist Winifred Schwellbrüstler.“
„Ich verstehe Ihren Drang, sich einen anderen Namen zu geben,“ stellte Bryce fest. „Aber wenn es Sie beruhigt, ich bin schon Damen mit weit auffälligeren Namen begegnet.“
Die junge Frau schmunzelte. „Nennen Sie mich einfach Fred.“
„Und Sie dürfen mich John nennen,“ erwiderte der Engländer mit seinem bübischen Lächeln.
„Sie sehen genau aus, wie auf dem Foto, das Marley mir gezeigt hat.“
Urplötzlich stand der Kellner am Tisch – was eine schöne junge Frau in einem passenden Kleid doch alles bewirken konnte – und nahm die Bestellung einer Weinschorle für Fred entgegen. Als er wieder gegangen war, setze John das Gespräch fort: „Sie haben also wichtige Informationen über Convulsion und suchen deshalb Schutz?“
Fred nickte. „Convulsion ist nur eine Scheinfirma für eine Organisation namens PHANTOM, Abkürzung für irgendwas.“
„Privat Hive for Annihilation, Negation, Terror, Oppression and Murder,“ kam es aus Bryce herausgeschossen.
Fred sah ihn verblüfft an. „Was ist es bloß mit Geheimorganisationen und Abkürzungen? Ich meine, SPIES, SPIONE, PHANTOM, wie merken Sie sich das alles?“
„Übung,“ erwiderte der Agent emotionslos. „Was hat PHANTOM mit Convulsion vor?“
„Convulsion erforscht Erdbeben. Unter anderem waren sie bei der Untersuchung des Erdbebens von Staufen vor einiger Zeit dabei. Tatsächlich entwickelt Convulsion eine Methode, nach der sie zielgenau Erdbeben in kürzester Zeit auslösen können.“ Sie unterbrach sich, als der Kellner ihre Weinschorle brachte, und wartete ab, bis er sich wieder vom Tisch entfernt hatte. „Die notwendigen Geräte sind alle an Ort und Stelle und voll einsatzbereit. Und sie planen, an Silvester ein großes Erdbeben hier in Freiburg auszulösen.“
„Die Kontrollgeräte sind im Gebäude von Convulsion?“ fragte John nach.
Fred schüttelte den Kopf. „Bei Convulsion wird nur der theoretische Teil gehandhabt. Die Kontrollgeräte sind in einem geheimen Quartier am Kaiserstuhl.“
Bryce nickte. „Wir bleiben besser noch ein bisschen hier, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.“
„Das trifft sich gut,“ meinte Fred und nahm eine der beiden Speisekarten zur Hand. „Ich habe seit heute morgen nichts gegessen. Ich bin schon am verhungern.“
„Das wollen wir möglichst vermeiden,“ erwiderte Bryce wieder mit humorvollerer Miene. Während Fred die Speisekarte studierte, nutzte er den Moment der Ablenkung und träufelte, als er nach der zweiten Speisekarte griff, von der radioaktiven Flüssigkeit in Freds Schorle. Er hätte ihr zwar davon erzählen können, aber er wollte sie nicht noch zusätzlich mit der Möglichkeit, dass sie getrennt werden konnten, beunruhigen.
Fred aß Spaghetti mit Lachs und John versuchte das Kesselfleich mit Sauerkraut. Während des Essens unterhielten sie sich. Fred erzählte die Herkunft ihres Usernamens. John konnte natürlich nicht viel von sich selbst preisgeben, aber Smalltalk über Musik war noch drin.
Schließlich kam das Gespräch auf Marley. „Er hatte mir gesagt, falls ihm etwas zustöße, solle ich niemandem außer Ihnen vertrauen,“ sagte Fred. „Er erzählte, Sie hätten einmal die Welt gerettet.“
„Einmal, bei dem Marley dabei war,“ erwiderte John, noch bevor er sich selbst stoppen konnte. „Tut mir Leid, das klang, als wolle ich mich aufplustern.“
„Die Welt ist so oft in Gefahr?“ fragte Fred erschüttert.
„Naja, nicht immer die ganze Welt, und Organisationen wie PHANTOM sind sowieso auf Erpressung aus und setzen ihre Superwaffen in der Regel nur zu Demonstrationszwecken ein. Aber wegen solchen Gefahren gibt es schließlich Leute wie mich.“ Er bemerkte Freds beunruhigten Blick. Er griff nach ihrer Hand und hielt sie sanft in beiden Händen und sah ihr tief in die Augen. „Hey,“ sagte er. „Ich werde Sie beschützen. Mit meinem Leben.“
Fred fühlte sich wieder ein wenig sicherer. Sie spürte, dass der Spion es ernst meinte.
Schließlich bezahlte John und sie verließen das Restaurant. Der Weg zum Laden der Auroras führte über die großen Stufen des Augustinerplatzes. John hatte den Arm um Fred gelegt, um sie nahe zu haben. Gleichzeitig blickte er sich in der nur von einigen Laternen erleuchteten Nacht um. Alles schien ruhig.
Bis Bryce ein Klacken hinter sich hörte. Er drehte sich um und sah den Blinden aus dem Restaurant. Plötzlich fiel es ihm wieder ein. Er schubste Fred sanft von sich weg. „Lauf!“
Fred war verwirrt, aber es war sicher nicht der Zeitpunkt, um Fragen zu stellen, und so lief sie so schnell, wie es das eisige Pflaster erlaubte.
Der Blinde hob seinen Stock und eine Klinge erschien an dessen Spitze. Er stieß vorwärts. John wich zwar aus, doch die Klinge erwischte ihn noch an der Seite. Warmes Blut traf auf die Kälte der Nacht. John versuchte, einen Tritt zu landen, doch der Blinde schien diese Aktion vorauszuahnen. Nun zog John seine Pistole, doch sein Gegner schwang den Stock und schaffte einen leichten Schnitt an Johns rechter Hand. Die Waffe fiel zu Boden. Der Blinde stieß nach, und John musste von seiner Pistole zurückweichen.
John sprang über das Bächle, trat einige Meter weiter zurück und kletterte einen kleinen Zaun hinauf. Der Blinde kam nach und trat in das Wasser. Fluchend schüttelte er den kalten, nassen Fuß und stieß erneut mit der Klinge nach John.
Darauf hatte er gewartet. John hielt der Klinge sein Handy entgegen und aktivierte den Elektroschocker. Der Blinde schrie auf und zappelte, als 750.000 Volt durch das Metall des Blindenstocks in seinen Körper flossen. Als John den Schocker abstellte, fiel der blinde Mann leblos und qualmend zu Boden.
John atmete tief durch. „Ob er am Ende doch das Licht gesehen hat?“ murmelte er. Doch gerade, als er seinen Herzschlag wieder auf normales Niveau senken wollte, hörte er den Schrei einer Frau wenige Straßen weiter. Fred! So schnell er konnte lief er los, blind gegenüber dem Eis. Schließlich erreichte er die große Kreuzung am Holzmarkt, doch er sah nur noch ein Auto davonfahren. Er war zu spät. Sie hatten Fred.
3
„Sie haben Fred,“ wiederholte Bryce.
„Moment, Pause,“ warf Hermann Aurora ein. „Fred ist eine Frau?“
„Wie in Angel?“ fügte Sigrun hinzu.
John blickte sie verständnislos an. Er schüttelte den Kopf und fuhr fort. „Der Angreifer war Johann Krepp, Auftragskiller und Agent von PHANTOM. Er ist tatsächlich blind, aber seine anderen Sinne sind um ein vielfaches besser als bei normalen Menschen.“
„Sowas gab's auch bei Angel,“ bemerkte Sigrun.
„Ich hab ja zuerst an Daredevil gedacht,“ meinte Hermann.
„Ich muss sie verfolgen,“ sagte John. „Der Wagen hat einen Radar, mit dem die Strahlung geortet werden kann?!“
Sigrun schüttelte den Kopf. „Denken Sie nicht mal daran, John! Denken Sie an unsere Hauptdirektive.“
„Glauben Sie etwa, dass PHANTOM, jetzt da wir Bescheid wissen, noch bis Silvester warten wird?“ John schüttelte erneut den Kopf. „SPIES hat auch eine Hauptdirektive. Sie lautet 'Rettet die Welt mit allen Mitteln'.“ Er machte eine kurze Pause. Dann wiederholte er erneut: „Sie haben Fred.“
Sigrun und Hermann sahen einander wissend an und nickten sich zu. „Die Schlüssel stecken,“ sagte Sigrun.
John rannte an ihnen vorbei in die große Halle.
Fred öffnete langsam und mühselig die Augen. Noch sah sie nur verschwommene Umrisse und hörte Stimmen wie aus weiter Ferne, doch bald wurde ihre Sicht klarer und die Stimmen kamen näher.
Sie bemerkte, dass sie saß. Auf einem Stuhl. Konnte sie sich bewegen? Nein, da war ein Hindernis. Handschellen fesselten sie an Handgelenken und Fersen an den Stuhl. Sie sah sich um. Der Raum war von dem Stuhl abgesehen vollkommen leer. Es gab keine Fenster und nur eine Tür. Das Licht kam von einer Deckenleuchte und wirkte künstlich und kalt.
Plötzlich öffnete sich die Tür und ein Mann trat herein. Sein schwarzes Haar war nach hinten gekämmt, seine Augen waren kalt und sein Körper von hagerer Gestalt. Sein Anzug war grau und nach oben hin zugeknöpft. Insgesamt hatte er die Erscheinung eines klassischen Filmschurken.
„Guten Morgen, Frau Schwellbrüstler,“ sagte er emotionslos. „Sie haben sicherlich einige Fragen. Mein Name ist Marcus Sadd, und wie Sie sicherlich erraten haben bin ich Agent von PHANTOM.“
Fred starrte ihn mit einer Mischung aus Angst, Hass und Verwirrung an. „Wo bin ich?“
Sadd begann, während dem Reden auf und ab zu gehen. „Sie sind in einer geheimen Basis. Wir wissen, dass Sie wissen, was es mit dieser Basis auf sich hat, und Sie wissen, dass wir nahe dem Kaiserstuhl sind. Aber wo genau? Nun, es schadet wohl nicht, es Ihnen zu verraten. Wir sind in Breisach, in einer Halle am Stadtrand. Für Passanten scheinen wir hier in einem Speditionsgebäude zu sein, und was Sie trotz Ihrer Hackerfähigkeiten nicht entdecken konnten ist, dass diese Halle ganz legal von Convulsion gemietet ist.“
Fred schnaufte. „Und was wollen Sie von mir?“ zischte sie.
Sadd lachte. „Das ist der Punkt, nicht wahr? Obwohl, eigentlich müsste die Frage ja lauten: Warum sind Sie noch nicht tot?“ Er trat näher an sie heran und bückte sich, so dass sie auf Augenhöhe waren. Sein Blick war starr und durchdringend. „Sie haben einen SPIES-Agenten getroffen, bevor wir Sie aufgreifen konnten. Und wir würden unheimlich gerne wissen, wie viel dieser Agent von Ihnen erfahren hat.“ Er richtete sich wieder auf und trat um sie herum. „Machen Sie sich keine Illusionen. Sie werden sterben. Sie werden diesen Raum nicht mehr lebend verlassen. Aber das bedeutet nicht, dass Ihre Zukunft bereits festgeschrieben ist. Sehen Sie,“ er legte ihr die Hände sanft um den Nacken, „Sie könnten schnell und schmerzfrei sterben.“ Dann drückte er fester zu. „Oder Sie könnten erleben, wie es ist, lebendig gehäutet zu werden.“ Nun ließ er sie wieder los und ging den Kreis zu Ende, so dass er wieder vor ihr stand. Er bemerkte, dass er nicht ihre volle Aufmerksamkeit hatte. Es gab noch etwas, das ihr im Kopf umging. „Es gibt keinen Grund zur Hoffnung.“ Erneut beugte er sich zu ihr herab. „Es gibt niemanden mehr, der Sie retten könnte.“
In diesem Moment ertönte ein lautes Alarmsignal. Sadd schreckte mit weit aufgerissenen Augen hoch und eilte zur Tür. In der großen Halle war die Hölle los. Die Alarmlichter blinkten, die Techniker und Söldner rannten wild umher. „Was ist hier los?“ rief er.
Da krachte das Blechtor am anderen Ende der Halle nieder und ein schwarzer Sportwagen fuhr mit Vollgas herein.
Bryce riss das Steuer herum und trat auf die Bremse. Mit kühlem Kopf bemerkte er die bewaffneten Söldner, die herbeieilten und ihre Maschinengewehre auf seinen Wagen richteten. Die Kugeln prallten an der Titaniumlegierung des Wagens ab wie Papierkugeln. Naja, wie Papierkugeln, die beim Abprallen Funken sprühen.
John legte einen Schalter an seinem Armaturenbrett um und die Radkappen öffneten sich wie das Objektiv einer alten Kamera, um dahinter die Läufe von Maschinengewehren zu präsentieren. Während er das Dauerfeuer eingestellt hatte, begann Bryce im Kreis zu fahren. Die Söldner sprangen in Deckung, was nicht allen gelang. Plötzlich tauchte ein kleines Militärfahrzeug mit Raketenwerfern auf, und die Raketen wurden auf Bryces Wagen ausgerichtet. Bryce hielt kurz an und ging sein Arsenal durch. Nichts, was die Panzerung des gegnerischen Fahrzeugs durchschlagen konnte. Es gab nur eine Möglichkeit. Bryce beschleunigte mit Vollgas und hielt auf das andere Fahrzeug zu. Der Pilot des Fahrzeugs aktivierte den Raketenwerfer. In diesem Moment machte Bryce sein Fernlicht an. Während sein Gegner geblendet war, sprang der Agent aus seinem Wagen, rollte ab und zog dabei seine Pistole aus dem Brusthalfter. Inzwischen kollidierte sein Sportwagen mit dem Militärfahrzeug, was zu einer Explosion und der Zerstörung beider Fahrzeuge führte.
Bryce stand auf, die Pistole im Anschlag, und schoss auf jene Söldner, die noch nicht unschädlich am Boden lagen.
Ein Techniker stand am Kontrollterminal und hielt den Finger über einem großen roten Knopf. „Waffe fallen lassen,“ rief er. „Oder Breisach wird in einem Jahrhunderterdbeben untergehen!“
Bryce zögerte einen Moment. Schließlich ließ er die Pistole fallen. Mit seiner linken Hand hinter seinem Rücken hielt er sein Mobiltelefon. Vorsichtig, nicht die falsche Taste zu drücken, gab er 777 -Send- ein. Dann schwang er den linken Arm herum. „Fangen Sie,“ rief er und warf dem Techniker das Telefon zu.
Dieser fing es reflexartig auf und blickte es ungläubig an. Den EMP spürte er kaum, aber er bemerkte, dass die Lichter und Anzeigen des Terminals erloschen. Als Bryce sich nach seiner Pistole bückte, drückte der Mann panisch auf den großen Knopf doch nichts passierte.
Bryce zielte mit seiner Pistole auf den Techniker. „Scheint als wäre Ihre Wirkung nicht so erschütternd, wie Sie dachten.“
In seiner Panik sprang der Techniker zu einem am Boden liegenden Gewehr, doch als er landete hatte sich bereits eine Kugel aus Bryces Pistole in seinen Bauch gebohrt.
Bryce rannte eine Treppe zu einer Galerie hinauf und zu einer offenen Tür, doch der kahle Raum war, von einem umgeworfenen Stuhl abgesehen, leer.
Von draußen hörte er das Geräusch von Autotüren und rannte zu dem großen Loch in der Wand, durch das er gekommen war. Ein PKW fuhr los, durch das Fenster der Rückbank konnte er noch Freds verängstigtes Gesicht sehen. Bryce rannte hinterher, doch es war hoffnungslos. Doch als er wieder zum Stehen kam, bemerkte er neben sich einen herrenlosen LKW.
Der Wagen fuhr mit einem irren Tempo durch die Straßen in Richtung Kreisverkehr zur französischen Grenze. Sadd saß auf dem Rücksitz und hielt mit einer Pistole die gefesselte Fred in Schach, während einer der Söldner den Wagen fuhr. Alles war ruiniert! Dieser verdammte Brite hatte die ganzen Geräte unbrauchbar gemacht. Im herrschenden Chaos hatte Sadd aber auch die Frau holen – im Zweifelsfall war eine Geisel immer gut – und mit ihr fliehen können.
„Schneller,“ brüllte er den Fahrer an. Um diese frühe Uhrzeit, zwischen den Jahren, war glücklicherweise noch nicht viel Verkehr. Am Horizont ging gerade erst die Sonne auf. Sie bogen mit halsbrecherischem Tempo in den Kreisverkehr und Richtung Grenze ab. In Colmar befand sich ein Safehouse von PHANTOM, wo er unterkommen und auf seinen nächsten Auftrag warten konnte.
In seiner Aufregung blickte Sadd immer wieder nach vorne und nach hinten. Und plötzlich war da dieser LKW ohne Anhänger hinter ihnen, und er holte immer mehr auf.
John beschleunigte den Lastwagen immer mehr. Die Strecke ging jetzt noch eine Weile geradeaus. Jetzt oder nie! Er blockierte das Lenkrad, um es auf stabilem Kurs zu halten, und stellte den Tempomat ein. Hinter seinem Sitz hatte er eine Nylonschnur entdeckt und band sich das eine Ende um die Hüfte. Dann öffnete er die Fahrertür, suchte mit dem Fuß nach Halt an der Seite des Fahrzeuges, und kletterte nach vorne zum Kühlergrill. Hier band er das andere Ende des Seils fest und wandte sich dann nach vorne. Der PKW, in dem Fred gefangen war, fuhr nun nur noch einen Meter vor ihm. Er erkannte ihr Gesicht, in dem Angst durch Hoffnung ersetzt wurde, und er sah den Mann neben ihr. Das Gesicht war unverwechselbar, Marcus Sadd.
Sie erreichten gerade die Brücke über den Rhein, als John seine Pistole zog, auf Sadd zielte und feuerte. Die Kugel blieb in der Heckscheibe stecken, doch erreichte sie, was John beabsichtigt hatte: Die Scheibe war destabilisiert. Der Agent sammelte alle Kraftreserven und sprang der Heckscheibe entgegen. Das Glas zersprang und John schlug mit dem Griff seiner Pistole auf Sadd ein. Dieser ließ benommen seine eigene Waffe fallen.
Mit der linken Hand griff Bryce nach Fred, die ihre mit Handschellen gefesselten Arme um seinen Hals legte.
Sadd erholte sich gerade, als John ihm etwas Winziges entgegenwarf. „Sie wollen also erleben, wie die Erde bebt,“ rief der Brite ihm entgegen, nur um sich von dem Wagen abzustoßen, sich an dem Seil hochzuziehen und wieder auf dem Kühlergrill des LKWs zu landen, die Frau sicher bei sich.
John und Fred kletterten schnell wieder zurück in die Fahrerkabine und der Brite stellte den Tempomat ab, um die Geschwindigkeit zu verringern und Abstand zu dem anderen Wagen zu gewinnen.
Sadd griff nach dem Objekt, das der Spion ihm entgegengeworfen hatte, und betrachtete es verwirrt. Ein Manschetenknopf?!
Eine Explosion erschütterte den PKW und brennend kam er ins Schlingern, bevor er von der Fahrbahn abkam, das Geländer durchstieß und von den Brücke in den Rhein fiel.
John bremste ab und brachte den LKW zum Stehen. Er atmete tief durch und sah zu Fred hinüber. „Bist du in Ordnung?“ fragte er.
Sie keuchte auch und sah ihn mit großen Augen an. Ohne Vorwarnung warf sie sich auf ihn und presste ihre Lippen gegen die seinen.
****
Epilog
„Ich bin schwer enttäuscht von Ihnen,“ sagte der ältere Mann auf dem Monitor. Es war K, Leiter von SPIONE. „Es gab eine Schießerei in einer Lagerhalle in Breisach und einen schweren Autounfall auf der Rheinbrücke. Wie konnten Sie Bryce gehen lassen? Das war eine schwere Verletzung der Hauptdirektive!“
„Eigentlich,“ warf Sigrun ein, „haben wir uns nur an die Hauptdirektive gehalten. Hätten wir Bryce abgehalten, hätten wir uns eingemischt, was uns die Hauptdirektive streng verbietet.“
K war offensichtlich sprachlos, schnaufte missmutig, aber wusste, dass er geschlagen war. „Sie hören von mir,“ sagte er und verschwand vom Bildschirm.
Sigrun wandte sich offensichtlich gut gelaunt ihrem Mann zu, der hinter ihr saß. Dann fiel ihr ein, dass sie noch immer nichts von Bryce gehört hatten. „Hast du sie schon gefunden?“ fragte sie.
Hermann blickte mit einem Lächeln auf den Monitor neben ihm, auf dem eine Karte von Breisach abgebildet war. An einem Punkt am Fuße des Münsterbergs leuchtete ein grüner Punkt. „Es scheint, als sei Fred gerade in einem Hotel. Soll ich dort anrufen?“
Sigrun überlegte kurz. „Gib ihnen noch ein paar Stunden.“
John und Fred lagen engumschlungen in einem großen Doppelbett und blickten sich tief in die Augen.
„Musst du nicht langsam wieder los und irgendwo die Welt retten?“ fragte sie.
John lächelte. „Die Welt kann noch bis nächstes Jahr warten. Ich habe noch dein Geheimnis zu erkunden.“
Fred lachte. „Sie wissen, John Bryce, mein Geheimnis ist nur für Ihre Augen bestimmt.“
John Bryce wird zurückkehren
Agent of SPIES: Nur für Ihre Augen
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