el-brazo hat geschrieben:
[...]
Sorry, daß ich mich tagelang nicht gemeldet habe. Komme derzeit abends erst gegen 21 Uhr nach Hause und falle dann gleich halbtot ins Bett.
Ich habe jetzt den Thread noch nicht weitergelesen, nur Deine erste Antwort vom Montag. Da ist mir einiges klar geworden, weshalb ich hier nochmal was nachlege. Eventuell ist es zu späteren Äußerungen redundant, ich weiß es noch nicht.
Meiner Meinung nach haben wir prinzipiell beide recht, aber auch unrecht. Es kommt nämlich auf die Perspektive an, den Standpunkt, von welchem man so eine Frage betrachtet. Die beiden Perspektiven sind "aus Sicht des Films" und "aus Sicht eines Genres".
Ich gehe jetzt mal weg vom Kurosawa zu einem anderen Film, wo die Situation ähnlich ist, aber vielleicht aufgrund größerer Distanz zum Subjekt leichter nachvollziehbar: "Mad Max" (Teil 1). Da greift die bekannte Grundregel "A element von B != B element von A".
1. "Aus Sicht des Films"
Das ist der Blickwinkel, von welchem Du an die Sache rangehst. Du schaust Dir den Film an und ordnest ihn dann, ausgehend von den Eigenschaften des Films selbst, in ein Genre ein.
Jetzt mache ich das mal bei "Mad Max". Da würde ich zum Beispiel spontan sagen können:
- Actionfilm
- zeigt inhaltliche Ähnlichkeiten mit "Ein Mann sieht Rot" -> Rächermovie oder wie immer man es nennen mag
- Gang Movie, Rockerfilm, böse böse Moppedfahrer wie bis Mitte der 80er in Filmen wie "Vigilante" beliebt. Strickmuster für ein Subgenre.
Wenn ich mich aus dieser Perspektive festlegen muß, komme ich wahrscheinlich zu dem Schluß, daß es sich um einen innovativen Actionkracher handelt.
Typische Vertreter dieses Standpunktes sind Filmrezensionen. Oder TV-Zeitschriften. Oder auch die Kapitel in meinem Büchlein, die ganz alleine einem Film gewidmet sind. Und vor allem ist das die Sichtweise des normalen Zuschauers, der im Kino sitzt, mit einem Film als eigenständige kleine Welt konfrontiert wird und nach dem Abspann dann sagt "Okay, ich habe grade einen prima Actionfilm gesehen".
Das hat einen Vorteil: Man würdigt das Werk *unmittelbar*. Nämlich so, wie seine Macher ihn auch schufen, man sieht sozusagen das reale Gesicht des Films. Wie in einer Bildergalerie, in die man latscht, um sich "Mona Lisa" anzuschauen.
Der Nachteil: Stichwort "Alien". Seit 25 Jahren hört man da Diskussionen wie "Nein, das ist kein Horrorfilm, das ist Science Fiction". Tja, das ist halt eine ausgesprochen subjektive Perspektive, keine objektiv-wissenschaftliche.
2. Aus Sicht eines Genres
Von diesem Standpunkt aus betrachtet man keinen isolierten Film, sondern eine große Menge von Filmen gleichzeitig. Die einzelnen Gesichter der Filme sind nicht mehr erkennbar. Da marschiert man nicht mehr in den Louvre, um sich "Mona Lisa" anzuschauen, sondern weil man sich für die Galerie als Ganzes interessiert.
Solche Galerien heißen dann z.B. "Die Enzyklopädie des Science Fiction Films", "The Aurum Encyclopedia - Gangster" oder meinetwegen auch "Das Dokument des Grauens". Und hier wird's aus der Perspektive eines einzelnen Films mitunter eigenartig. Beispiel "Mad Max". Das ist ja eigentlich ein Actionfilm, aber verdammt, der taucht in schöner Regelmäßigkeit in Lexika der Science Fiction auf. Was soll der Scheiß? Gut, am Anfang steht da ein Schriftzug "Heute in ein paar Jahren" und die Polizei ist nicht nach heutigen Gewohnheiten strukturiert sondern erinnert mehr an einen westlichen Polizeistaat als an Demokratien. Aber das ist doch Unfug, schließlich könnte man den Schriftzug wegschmeißen und aus dem Polizeichef einen durchgeknallten Sheriff machen und den Film in der Einöde von Colorado oder komplett auf der Route 66 im Jahr 1980 spielen lassen, es wäre dann immer noch der gleiche Film! Und da jetzt zu behaupten, es sei ein Klassiker der Science Fiction, ist doch total gaga.
Das ist es auch. Aus der Sicht des Films. Aber die Perspektive ist nicht jene, welche der Betrachter eingenommen hat.
Wenn man sich dann irgendwann mal "Mad Max 2" anguckt, kommt man wieder aus dem Kino raus und sagt "Jo, das war auch ein geiler Actionkracher. Aber auch ein geiles Endzeit-Movie!" Aha. Das heißt also, daß es hier dann schon eher nachvollziehbar ist, weshalb der Videothekar eine Kopie des Films auch in die SF-Abteilung gestellt hat. Verständlicher als beim ersten Teil.
Der Endzeit-Aspekt ist hier viel offensichtlicher. Wenn wir den jetzt aber mal genau analysieren stellen wir dann fest, daß er zwar offensichtlicher ist, aber quantitativ und auch qualitativ beim ersten Teil genauso stark ausgeprägt. Der spontane Unterschied zwischen den Filmen ist an dieser Stelle, daß er erste durch das ganze Ambiente als realistischer empfunden wird als der zweite Teil. Der eine Film ist ein Döner, der andere Gyros. Beides schmeckt völlig unterschiedlich, aber wenn man nur draufguckt anstelle davon zu kosten, ist's irgendwie doch fast das gleiche.
Der Filmhistoriker ist jetzt in einer Zwickmühle. Wenn man sich beide Filme anschaut, sind sie extrem unterschiedlich. Aber wenn man nur auf die Zutaten guckt, ist es fast das gleiche. Vielleicht ein wenig anders gewürzt und länger gebraten und mit Fladenbrot anstelle von Reis als Beilage, aber letztlich das gleiche.
Die Konsequenz für den Historiker liegt auf der Hand. Schreibt er ein Buch über Science Fiction, muß er sich entscheiden: Entweder beide Filme rein oder beide bleiben draußen. Nur einen zu erwähnen, wäre inknsequent und unprofessionell. Schreibt er jedoch ein Buch über die "Mad Max"-Filme, wäre er ein Vollidiot, wenn er beim ersten Film auf der enthaltenen Science Fiction herumreiten würde - wenn er gut ist, erwähnt er die SF beim ersten Teil nur am Rande von Beispielen, weißt aber darauf hin, daß sie marginal sind und man sich, um SF zu sehen, besser auf die Sequels vertraut. Es guckt ja auch keiner Godzilla-Filme, weil hin und wieder ein paar Ufos herumfliegen, sondern weil er Monster sehen will.
Anderes Beispiel: "Star Wars" (1977). Vom Standpunkt des Films: reinrassige Science Fiction. Vom Standpunkt des Historikers: Science Fiction mit starken Einflüssen aus anderen Genres, unter anderem Kriegsfilme und Fantasy. Kriegsfilm wegen der letzten Viertelstunde und ihrem massivne Bezug zu Luftschlachten aus Filmen über den zweiten Weltkrieg. Fantasy, weil man den Film auch so beschreiben könnte: "Irgendwann in der Zukunft ziehen die guten Jedi-Ritter gegen einen in seiner Festung sitzenden schwarzen Ritter los, um eine entführte Prinzessin zu befreien". Wenn der Historiker es ganz wild treiben will, sagt er sogar noch "Und in der Festung des schwarzen Ritters sitzt die SF-Version eines Drachens, welcher die Macht hat, mit seinem Feuerstrahl ganze gegnerische Städte (aka Planeten) einzuäschern". Beim letzten Satz läuft er Gefahr, überzuinterpretieren und über das Ziel hinauszuschießen. Aber sein Satz über die weißen und schwarzen Ritter und die entführte Prinzessin ist ein stichhaltiges Argument - in "Star Wars" steckt Fantasy in einem Maße drin, welches zu der Annahme berechtigt, daß wenn es die ganzen Ritterfilme nie gegeben hätte, "Star Wars" ein völlig anderer Film geworden wäre - oder, falls nicht, hierdurch auf diesem Sektor als neue Art von Ritterfilm regelrecht innovativ war.
Aber, und das ist wichtig: Das macht aus "Star Wars" als Gesamtwerk, betrachtet aus der Sicht des Films, nicht zu einem Fantasyfilm.
Aber das Genre der Fantasy sitzt über seinen hunderten von verschiedenen Exemplaren und sagt lächelnd "Hey guck' mal, da drüben, da hat George Lucas im Jahr 1977 einen Ritterfilm gedreht, der in einer fernen Zukunft spielt, mit Raumschiffen anstelle von Pferden und gewaltigen Laserbeams des Todessterns anstelle eines hauseigenen Drachens". Das mag dem Film als Gesamtwerk nicht gerecht werden, aber die Aussage aus Sicht des Gottes der Fantasy ist vollkommen legitim und er hat auch das Recht, auf "Star Wars" als Genrebeitrag ein wenig stolz zu sein. Der Gott der Science Fiction meldet sich dann gleich zu Wort: "Alter, Finger weg! Der Film gehört zu mir!" Womit er recht hat. Aber aus der Fantasy-Ecke kommt ein breites Grinsen und "Tja, der Film mag bei Dir im Keller stehen, aber er gehört letztlich auch zu mir, er ist Teil einer Schnittmenge. Denn ohne das ganze Zeug, welches Du von mir geklaut hättest, hättest Du auch "Star Wars" nicht. Lass' ihn ruhig bei Dir im Keller, der Film hat mit Dir mehr zu tun - aber das Etikett 'Made by Fantasy' bleibt gefälligst drauf."
Beim Kurosawa ist es nicht so krass. Der Gott des anspruchsvollen japanischen Actionkinos hat sich hier nicht bedient, sondern einen Film unter seinen Fittichen, welcher auf seinem eigenen Mist enstanden ist. Er hat lediglich danach gönnerhaft den Genres der Fantasy, des Westerns und vielleicht auch noch anderen ein paar Brocken zu deren eigenen Verwendung rübergeworfen, die dann als Ingredienzen von diesen weiterverwurschtelt wurden. Aber die Empfänger dieser Brocken erinnern sich noch daran, daß es drüben im anderen Lager einen Film gibt, mit dem sie sich sehr verbunden fühlen. Und es ist durchaus ihr Recht, dies auch zu sagen - und auch, daß in diesem Vorbild ein paar Brocken drinstecken, welche dieses wiederum von ihnen ausgeliehen hat.
Gilt übrigens auch für "The Last Samurai". Der Film mag vielleicht im alten Japan spielen. Aber letztlich ist der Film ein stinknormaler Western. Ein "Dances With Wolves", Japaner anstelle von Indianern, der sich am Ende dann sogar noch eiskalt und namentlich auf General Custer beruft. Witzigerweise bedient der Film sich aber auch am Kurosawa als großem Vorbild und benutzt hier auch die gleichen Brocken aus anderen Genres.
Fazit: Hätte ich geschrieben, "Die sieben Samurai ist ein Fantasy-Film" wäre das falsch. Wie es im Falle von "Mad Max 1" und SF falsch wäre. Denn das ist die Perspektive "Aus Sicht des Films". Welche Du ja auch vertrittst.
Was ich geschrieben habe, war jedoch "Aus Sicht des Genres", nämlich: "Wenn ich ein Buch über Fantasy schreiben würde, wäre dort der Kurosawa erwähnt". Genauso, wie in einem Lexikon über SF auch "Mad Max" erwähnt wird.
Die beiden Perspektiven sind zueinander nicht kompatibel (in Informatiker-Deutsch: "Die Mengen sind nicht bijektiv aufeinander abbildbar"). Siehe ganz oben am Anfang dieses Vortrags meine Aussage "A element von B != B Element von A". Auf deutsch: Wenn ein "Mad Max" ein wichtiger Teil der SF ist, bedeutet das nicht auch generell, daß die SF auch ein wichtiger Bestandteil von "Mad Max" ist. Kommt diese Kernaussage einigermaßen nachvollziehbar und verständlich bei Dir an?
Falls Du jetzt einigermaßen kapiert hast, worauf ich hinaus will, kommst Du evt. zum gleichen Schluß wie ich: Wir haben erstklassig aneinander vorbei geredet. Ich war links vom "!=", Du rechts. Ich bin davon ausgegangen, daß ich klipp und klar geschrieben habe, aus welcher Perspektive ich den Fall betrachte. Daher habe ich, wohl fälschlicherweise, vorausgesetzt, daß Du auch auf meiner Seite vom "!=" argumentierst. Mir ist jetzt klar geworden, daß dies nicht der Fall war.
Was die Reaktion von MB betrifft: Völlig nachvollziehbar. Für ihn gibt es halt nur die eine Seite der Ungleichung, ausschließlich "Aus Sicht des Films". Ist völlig okay. Solche Leute interessiert nur dieser eigene Standpunkt, den anderen kennen sie vielleicht auch nicht. Ich empfinde es allerdings nicht grade als ein Zeichen von geistiger Reife und Intelligenz, wenn man andere Perspektiven nur in der von MB vertretenen Form behandelt. Soll er halt weiter reiner Konsument bleiben, da ist nichts schlimmes dabei und das ist völlig okay - aber vielleicht nicht so die Klappe aufreißen, wenn es um Dinge geht, die er nicht verstehen WILL.
Da schalte ich dann selbst auf stur und sage bewußt provozierend und arrogant, daß wer mit den Großen pissen gehen
will, dann auch gefälligst darum bittet, daß man ihm zum Urinal hochhebt - oder er pinkelt weiter auf den Boden, wenn er anstelle zu Bitten lieber lauthals rumkrakeelt. Manche Leute analysieren eben lieber Filme, andere spielen lieber mit Plastikfiguren - jedes hat seine Berechtigung, aber mit Leuten, deren Verstand nicht ausreicht, die Tätigkeit der anderen zu akzeptieren und dann beleidigend werden, will ich nichts zu tun haben. Solchen Leuten zeige ich zuhause schließlich auch, wo der Maurer für Sie ein Loch in der Wand gelassen hat. Ich bin ein Verfechter von "Wenn jemand nicht fragt und deshalb dumm stirbt, geht mich das nicht das Geringste an", um jetzt mal das geläufige Sprichwort ohne irgendwelche Intentionen zu bemühen. Unwissenheit und Unverständnis sind normal und okay, schließlich ist das die Grundlage für Diskussionen und letztlich auch dieses Forums. Aber ein Recht auf ein gerütteltes Maß an Blödheit nebst Beleidigungen gewähre ich nicht.
Womit das Thema des Streits jetzt auch für mich abgeschlossen ist.