Das europäische Kino ist tot – Teil 1 – Carlos, der Schakal
Mit Überschriften fängt man Leute, das wusste schon ein gewisser Zeitungsverleger, der daraufhin die Zeitung mit den großen Buchstaben schuf.
Was bringt mich also zu dieser These, mich ehrlich gesagt nichts, allerdings wird sie uns seit längerem schon suggeriert.
Wenn man sich so anguckt was in den deutschen Kinos erfolgreich läuft, oder auch nicht oder gar nicht mal gespielt wird, könnte man zudem Entschluss kommen, dass europäische Kino sei mit Ausnahmen von französischen Komödien mit Reno, Depardieu oder Boon tot.
Eine Tatsache die vielleicht darauf zurückzuführen ist, dass es der heutigen Generation an Kinogängern nicht mehr möglich ist komplexer Handlung länger als fünf Minuten zu folgen.
Vielleicht hat Hollywood Schuld mit ihrem größer, toller und bombastischer Trend seit den 1980ern mit einem Blockbuster nach dem anderen.
Der Trend geht jedenfalls weg von Handlung hin zu Explosionen.
Da haben es europäische Filme, die zum Teil ja nie einfach zu folgen waren natürlich schwer.
Keine lineare Erzählstruktur, übergreifende Handlungsstränge, da kann es den Michael Bay Fans schon schlecht werden.
Wenn doch mal ein europäischer Film Erfolg hat kommt wenig später ein US – Remake und man wird gefragt ob man diesen tollen neuen Thriller mit Daniel Craig kennt.
Es ist frustrierend, aber bevor ich mich jetzt in Hasstiraden auf Blockbuster und die Gesellschaft verliere, wobei würde das nicht zur Einleitung passen, fange ich mal an.
2010: Olivier Assayas Regisseur des mehrfach ausgezeichneten (eine deutsche DVD sucht man vergebens) Films „Summer Hours“ bringt einen Film über den Terroristen Ilich Ramírez Sánchez auf den Markt, welcher als TV-Mehrteiler erdacht war und später zu einer zuschauerfreundlichen dreistündigen Kinofassung geschnitten wurde.
Nachträglich kam er dann als Trilogie bzw. Zweiteiler (je nach Land) für das Fernsehen in seiner ungekürzten Pracht, mit stattlichen 331 Minuten.
In dieser fünfeinhalbstündigen Fassung lief er auch bei den Filmfestspielen von Cannes und einigen ausgewählten Kinos.
Jetzt könnte man meinen „Wow ein fünf Stunden Film über Terrorismus, da wird geschossen und gesprengt ohne Ende.“ aber nein, erfreulicherweise ist Jack Bauer nicht da.
Der Film sieht sich mehr als Biopic, mit Charakterstudienansätzen und liefert ein gutes Bild der Strukturen des Terrorismus in den 1970er und schließt einen gewissen Grundkenntnisstand der Gruppierungen jener Zeit voraus.
Die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP), die Revolutionären Zellen (RZ) oder die Japanische Rote Armee um ein paar Beispiele zu nennen.
Ilich Ramírez Sánchez, Kampfname: Carlos (Édgar Ramírez) führt Anschläge für die PFLP durch, unter anderem auch den auf die französische Botschaft in Den Haag mit der Beteiligung der japanischen Roten Armee.
Sein Kontaktmann zur PFLP-Spitze ist Michel Moukharbel (Fadi Abi Samra).
Als dieser verhaftet wird liefert er der französischen Polizei das Versteck von Carlos.
Während der Gegenüberstellung in dem Versteck zieht Carlos eine Waffe und tötet zwei der Polizisten und Moukharbel und taucht in Beirut unter.
Dort erhält er von der PFLP-Spitze Wadi Haddad (Ahmad Kaabour), trotz Streitereien wegen der Tötung von Moukharbel, den Auftrag die OPEC-Konferenz zu stören, deren Minister als Geisel zunehmen, nach Libyen zu fliehen und den Ölminister Saudi-Arabiens und des Irans zu töten.
Die OPEC-Geiselnahme im Dezember 1975 war eines der Medienereignisse des Jahres und nach langen Verhandlungen konnte in Algier, Libyen wollte sie nicht landen lassen, da bei der Erstürmung der libysche Minister ums Leben kam, der iranische und der saudi-arabische Ölminister freigekauft werden.
Für die PFLP eine herbe Enttäuschung weshalb Carlos aus der Organisation geworfen wurde und fortan seine eigenen Aktionen plant…
Ruhig und nie parteiisch zeigt der Film die Verkettungen der Leute und wie es zu den Aktionen kam.
Dies macht er ohne falsche Heldenverehrung, eher nüchtern, was mir sehr gut gefällt.
Soweit möglich hält sich der Film an geschichtliche Fakten, wie man aber gleich am Anfang des Filmes erfährt sind bis heute noch nicht alle Verbindungen der Leute aufgedeckt und bestätigt wurden, weshalb der Film hier zum Teil nur raten kann und muss.
Die bekannten Stationen im Leben von Carlos werden in chronologischer Reihenfolge abgearbeitet und mit der Rahmhandlung zu einem schlüssigen Ganzen verwoben.
So erfährt man, wenn man sich mit dem Thema schon einmal befasst hat nichts neues, wie auch, die wichtigen Sachen kann man ja nicht weglassen.
Das macht eine Handlungsangabe recht schwer, man will nicht zu viel vom Film verraten, aber es ist ja eh schon alles Geschichte.
Puristen wie mir wird auffallen, dass wenn man den Film im Original guckt, einem eine wirklich interessante Sprachenvielfalt geboten wird.
Der Film wurde in Englisch, Deutsch, Arabisch, Spanisch und Französisch gedreht, synchronisiert wurde er leider natürlich wieder durchgehend.
Schade, es geht dadurch viel an Authentizität verloren und es ist beeindruckend, wie sich manche Darsteller die Mühe gemacht haben die verschiedenen Sprachen, zumindest was ihren Text angeht, zu lernen.
Die Darsteller sind gut gewählt und einige schmeicheln ihren Originalen ziemlich.
Édgar Ramírez macht einen klasse Job.
Für die Rolle nahm er zu und ab, trainierte und ließ sich gehen nur um ein körperlich realistisches Bild des Carlos, über die Jahre zu zeigen.
Alexander Scheer (Sonnenallee) gibt den Johannes Weinrich großen Teils überzeugend.
Weinrich war die rechte Hand von Carlos, als dieser begann sich selbständig zu machen und hatte vorher mit Wilfried Böse (starb bei der Operation Entebbe) die Revolutionären Zellen gegründet.
Julia Hummer (Crazy) spielt die Gabriele Kröcher-Tiedemann, genannt Nada, wirklich sehr überzeugend und sieht ihr zudem auch noch erschreckend ähnlich.
Christoph Bach (Das Schneckenhaus) als Hans-Joachim Klein, genannt Angie, macht einen guten Job, man nimmt ihm die Rolle und seine Zerrissenheit wirklich ab.
Von den deutschen Darstellern ist er in meinen Augen der beste im ganzen Film, da er nicht so aufgesetzt wirkt wie es Alexander Scheer manchmal tut.
Die letzte Person die ich erwähnen möchte ist die Österreicherin, Nora von Waldstätten (Die Tore der Welt), die wirklich eine sehr überzeugende Arbeit abliefert als Magdalena Kopp, die trotz aller Höhen und Tiefen Carlos verfallen zu sein scheint.
Zum Glück verkommt die Beziehung der beiden nicht zu einem idealisierten Bild wie etwa bei Bonnie und Clyde, was man den Autoren u.a. auch Olivier Assayas zugutehalten muss.
Es hätte aber auch nicht zur eher nüchternen fast dokumentarischen Herangehensweise und Bildsprache des Films gepasst.
Olivier Assayas zeigt in ruhigen Bildern ein bewegtes Leben und einen wunderbaren Querschnitt in der Geschichte des Terrorismus.
Nie hektisch oder übertrieben, dafür beunruhigend und immer sachlich und ohne je Partei zu ergreifen weder für die eine noch für die andere Seite, eine Gabe die leider nicht alle Regisseure haben.
Ihm gelingt es in den über 300 Minuten auch nie den roten Faden zu verlieren und in Nebensächlichkeiten zu versinken, was bei den vielen Personen und ihren Interaktionen untereinander sicher nicht einfach war und für ein sehr gutes Script spricht zudem ist dies in Anbetracht der vielen Fäden die am Ende zu einem Großen und Ganzen zusammenlaufen schon sehr beeindruckend, da Nebensächlichkeiten von vor einer Stunde im nächsten Moment wichtig sein können.
Assayas verlangt von seinem Publikum aufzupassen und wenn es das tut bekommt es in beeindruckender Weise eine sehr komplexe und schlüssige Geschichte dargeboten, wie man sie bei Biopics häufig vergebens sucht und ich so eigentlich nur bei „Der letzte König von Schottland“ und "Che - Teil 1 und Teil 2" gesehen habe.
Außerdem beweist er dadurch etwas, was ich in den letzten Jahren nur im Fernsehen, vornehmlich von HBO (Six Feet Under / The Wire / The Sopranos) gewohnt war, nämlich, dass die Zeit sich mit Charakteren explizit auseinander zusetzen, der Story ungemein hilft, was man mit Begrenzungen auf maximal zwei Stunden nicht immer erreichen kann, gerade, wenn man ein Leben oder ein Abschnitt dessen reflektiert.
Zudem hat er mit dem Venezolaner (wie Carlos) Édgar Ramírez, einen Schauspieler der es schafft viele Facetten einer Figur wieder zugeben, sowohl charakterlich als auch körperlich, schade, dass er bisher noch nicht viele Gelegenheiten hatte dies zu zeigen.
Er spielt den Carlos, der die Verfilmung aus dem Gefängnis noch verbieten wollte, der sich selber ja nie als Terrorist sah sondern als Idealisten und Freiheitskämpfer, mit einer beeindruckenden Leidenschaft und einer beängstigenden realitätsnähe, zum Beispiel, wenn Carlos einfach nur Bomben in Geschäfte schmeißt um Terror zu verbreiten und Aufmerksamkeit zu erwecken ohne wirklich ein offensichtliches Ziel zu verfolgen
Für die Rolle hilfreich war sicher auch, dass er fließend Spanisch, Englisch, Deutsch, Französisch und Italienisch spricht.
Er gewann für den Carlos den César und bekam Nominierungen für den Golden Globe Award, den London Critics Circle Film Award und den Screen Actors Guild Award.
Ein weiter Pluspunkt sind die Originalschauplätze an denen gedreht wurde.
Das Team drehte in Deutschland, Frankreich, Österreich, England, Ungarn, Libanon, Marokko, Sudan und Jemen.
Gerade in Verbindung mit dem mehrsprachigen O-Ton sorgt das für eine noch größere Authentizität.
Dies spricht alles für großes Kino und so wurde der Film in Cannes gefeiert.
Bei seinem Deutschlandstart brachte es Carlos auf gerade mal 14.448 Besucher, das war in der Woche Platz sieben.
Carlos lief in 75 Kinos an.
Zum Vergleich, „Stichtag“ (Platz 1) mit Robert Downey Jr. lief in 519 Kinos an (365.368 Besucher).
Nun ziehen Komödien, wahrscheinlich immer mehr Besucher als beunruhigende und realistische Biopics über Terroristen.
Viel Werbung wurde 2010 jedenfalls nicht für Carlos gemacht, zumindest nicht, dass ich mich erinnere.
Schade, denn bei Carlos handelt es sich um wirklich großes Kino, allerdings ohne große Stars und Stars ziehen.
Fazit: Carlos ist für mich einer der besten Filme der letzten Jahre aus Europa und einer der besten Biopics die ich je sah.
Selten nimmt sich leider ein Regisseur und ein Film die Zeit seine Charaktere und Figuren über fünf Stunden zu entwickeln, was ihnen sichtlich gut tut.
Ganz großes Kino aus Europa!
Teil 1: Carlos, der Schakal
Teil 2: Backwoods - Die Jagd beginnt!
Teil 3: Cleanskin - Bis zum Anschlag
Teil 4: Dame, König, As, Spion
Teil 5: Fragile - A Ghost Story