Rezension: Gruselkabinett - 168 - Das tote Brügge
Verfasst: Di 02.03.2021, 10:26
Gruselkabinett - 168 - Das tote Brügge
Zum Inhalt:
Hugo Viane ist nach Brügge gezogen, da diese triste, desolate Stadt seiner Trauer um die über alles geliebte, verstorbene Ehefrau perfekt entspricht.
Fünf Jahre lang fließt sein Leben ebenso grau und ereignislos dahin, wie das Wasser in den Grachten, bis er eines Tages einer Ballerina begegnet, die seiner toten Frau bis aufs Haar gleicht. Fasziniert umwirbt Viane die Tänzerin, und als sie schließlich einwilligt, seine Geliebte zu werden, blüht er auf, wie eine frisch begossene Blume. Sein Glück scheint zunächst perfekt, doch nach und nach beginnt er Unterschiede zwischen der Maitresse und der von ihm so verehrten Toten festzustellen...
Zur Produktion:
Mit der vorliegenden Folge hat Titania Medien einen ganz besonderen Roman vertont. Die von dem belgischen Dichter und Schriftsteller Georges Raymond Constantin Rodenbach (16.07.1855 - 25.12.1898) verfasste Erzählung "Bruges-la-Morte", so der französische Originaltitel, erschien erstmals vom 04.-14.02.1892 als Fortsetzungsroman im "Le Figaro", der bedeutendsten Tageszeitung Frankreichs, und gilt als Hauptwerk des Autors. Rodenbach war zunächst als Rechtsanwalt tätig, gab diesen Beruf jedoch wegen Unwirtschaftlichkeit 1886 auf und nahm noch im selben Jahr eine Stellung als Sekretär der Zeitschrift „Le Progrès“ an. Bereits zwei Jahre später wurde die Publikation eingestellt, und Rodenbach bekam die Möglichkeit, für die damals wichtigste katholische Tageszeitung „Journal des Bruxelles“ als Korrespondent tätig zu werden. Nur sechs Jahre nach Erscheinen seines Hauptwerks verstarb er an einer akuten Blinddarmentzündung. Rodenbach gilt als Schriftsteller des Symbolismus, einer Kunstströmung des späten 19. Jahrhunderts, bei der es darum ging, darzustellen, ohne direkt zu zeigen. Auch bei "Bruges-la-Morte" sollte der Leser anhand der vielen, häufig eindeutigen Umschreibungen selbst erkennen, was gemeint war. Ganz ohne Richtlinie wollte der Autor sein Publikum aber wohl doch nicht lassen, und so machte er bereits in seinem Vorwort deutlich, daß es unter anderem um "die Stadt als Hauptfigur, verbunden mit den Gemütszuständen, die berät, abbringt, zum Handeln anregt“, ginge. Brügge, mit seinen verlassenen Straßen, düsteren Kanälen, stummen Häuserfassaden sowie dem ständigen Nebel und Nieselregen, steht dabei symbolisch für den melancholischen, gebrochenen Gemütszustand des Protagonisten Hugues Viane.
Die erste deutsche Übersetzung des Romans erschien 1903 und stammt von Friedrich von Oppeln-Bronikowski (07.04.1873 - 09.10.1936), einem deutschen Schriftsteller, Übersetzer, Herausgeber und Kulturhistoriker. Bei seiner Übersetzung ging er allerdings recht weit, so daß er unter anderem den Namen des Protagonisten Hugues Viane zu Hugo eindeutschte. Nichtsdestotrotz ist es diese Version, die Marc Gruppe als Grundlage für sein Hörspielskript benutzt hat, auch wenn es 2003 und 2005 zwei weitere Übersetzungen ins Deutsche gab.
Das Potential dieser Geschichte war schon Rodenbach bewusst. 1894 wandelte er die Handlung zu dem Drama "Le Voile" ("Die stille Stadt") um, und 1920 diente das Buch dann dem Komponisten Erich Wolfgang Korngold (29.05.1897-29.11.1957) als Vorlage für die von ihm geschriebene Oper "Die tote Stadt". Daß dieses Werk auch den Kriminalroman "D'entre les morts" ("Von den Toten auferstanden", 1954) der französischen Autoren Pierre Boileau und Thomas Narcejac, 4 Jahre später verfilmt durch Alfred Hitchcock als "Vertigo - Aus dem Reich der Toten", beeinflusst hat, ist mehr als wahrscheinlich, da inhaltliche Parallelen durchaus vorhanden sind.
Doch zurück zum Hörspiel. Trotz der üppigen Laufzeit von fast 87 Minuten, sah sich Skriptautor Marc Gruppe gezwungen, etliche Passagen des Romans zu streichen. Das betrifft vor allem diverse Beschreibungen. Beispielsweise ist Hugos Kirchenbesuch stark gekürzt worden, und die Schilderungen der Umgebung, also der Gräber und der Kirche, sind auf ein Minimum reduziert. Das gilt auch für Barbes Kirchenbesuch, die umfassende Darstellung der Prozession, Hugos Erschütterung angesichts der alten Bilder sowie den Verweis auf das Schwanenpaar und Barbes ausführliche Putzarbeit.
Gruppe hat ja eine Vorliebe für die zeitliche Einordnung der Geschichten, und die von ihm hier festgesetzte Verortung in das Jahr 1892 deckt sich einmal mehr mit dem Erscheinungsjahr der literarischen Vorlage. Interessanterweise verändert er auch die sprachliche Zeitform vom Perfekt in Präsens. Dieser Kniff lässt das Geschehen aktueller wirken und sorgt dafür, daß der Hörer tiefer in die Handlung eintaucht. Allerdings relativiert sich dieser Aspekt insofern, als daß der Skriptautor ausnahmsweise auch die heutzutage altertümlich anmutenden Vokabeln wie "Sprengwedel", "Sonntagsstaat" und "Weibsperson" beibehält und auf eine Modernisierung der Sprache weitgehend verzichtet. Apropos Wortwahl, wie schon erwähnt, ist die Geschichte durch von Oppeln-Bronikowski eingedeutscht worden, und aus diesem Grund wirkt der einmalige Gebrauch des Ausdrucks "Monsieur", statt des ansonsten durchgehend verwendeten "Herr", wie ein Fremdkörper.
Insgesamt gesehen, handelt es sich hier aber um eine quasi wörtliche Adaption, wobei etliche Passagen des Erzähltextes entweder als innere Monologe oder Dialoge zwischen den Figuren verlaufen, um den Hergang flüssiger bzw. hörgefälliger zu gestalten. Zu diesem Zweck hat Marc Gruppe außerdem ein paar Kleinigkeiten zugunsten eines "dramatischeren" Ablaufs verändert. Das tangiert beispielsweise das erste Zusammentreffen von Hugo und Jane. Bei Rodenbach sieht Hugo Jane nur von fern, während er hier gedankenversunken mit ihr zusammenstößt. Ebenfalls abgewandelt ist die Art und Weise, wie Hugo Informationen zu Jane erhält. Im Roman heißt es dazu lapidar:"Hugo hatte sich schnell über sie erkundigt." Bei Gruppe dagegen bekommt er diese Auskünfte durch ein Gespräch mit einem anderen Opernbesucher. Neu hinzugefügt ist eigentlich nur eine Szene am Ende. Während Rodenbach den Leser mit einer düsteren Beschreibung des stammelnden Hugos entlässt, hat hier Barbe noch einen kurzen Auftritt. Ich fürchte, die meisten Hörer werden von dieser Folge ein wenig irritiert sein. Zwar steuert auch diese Geschichte letztendlich auf einen Höhepunkt zu, doch eigentlich ist hier der Weg das Ziel. Statt daß das Grauen langsam aufgebaut wird, um sich dann in einem Höhepunkt zu entladen, ist es hier die von vorneherein etablierte morbide Grundstimmung, die den Hörer die gesamte Laufzeit über begleitet und für eine entsprechende düstere Atmosphäre sorgt. Das durchaus drastische Ende kommt dementsprechend auch nicht überraschend, sondern geradezu vorhersehbar.
Daß die Geschichte nicht besonders gut gealtert ist, liegt an zwei Umständen. Erstens ist die heutige Zeit zu schnelllebig, als daß sich eine breite Masse noch mit der Kunstrichtung "Symbolismus" beschäftigen würde, und zweitens ist unser heutiges Bild von Brügge ein ganz anderes. Wer einmal dort war, der weiß, wie schön die Stadt ist und welchen Charme sie hat. Witzigerweise war es aber genau dieser für uns heute "altertümliche", Ende des 19. Jahrhunderts aber populäre Roman, der dafür sorgte, daß damals vermehrt Touristen in die Stadt kamen, um sich die Handlungsorte anzusehen. Auf diese Weise erreichte das heruntergekommene Brügge einen gewissen Wohlstand, der wiederum dazu führte, daß die Stadtväter umfangreiche Sanierungen vornehmen konnten. Wer nun das Hörspiel mit dem Roman vergleichen möchte, findet die hier verwendete Übersetzung im Internet unter https://www.projekt-gutenberg.org/roden ... ebrue.html.
Um die grenzenlose Tristesse noch zu unterstreichen, haben sich die Produzenten und Regisseure Stephan Bosenius und Marc Gruppe dazu entschlossen, Hugos Wanderungen durch das zerfallende Brügge mit einer sanften, melancholischen Melodie zu begleiten. Als Hugo jedoch wuchtvoll mit Jane zusammenstößt, ändert sich auch die Musik, und eine orchestral anmutende Weise akzentuiert das physische Aufeinandertreffen der beiden. Besonders gut gefallen haben mir das Opernstück aus "Robert der Teufel", von Giacomo Meyerbeer und die Abschlussmelodie, die mich unwillkürlich an einen Friedhof denken ließ. Passend zum zeitlichen Handlungsrahmen, sind hier überwiegend klassische Instrumente, wie Klavier, Geige und diverse Blasinstrumente zu hören. Lediglich die düsteren, tiefen und teilweise langgezogenen Töne sind mit Hilfe eines Synthesizers erzeugt worden. Natürlich ist eine überzeugende Geräuschkulisse in jedem Hörspiel wichtig, aber bei dieser Geschichte schlichtweg essentiell. Dementsprechend üppig setzen Bosenius und Gruppe eine Vielzahl an immer natürlich klingenden Tönen ein. So beschränken sich beispielsweise die geschmackvoll umgesetzten Liebesszenen auf lustvolles Stöhnen der Agierenden. Akustisches Highlight ist für mich das Blättern in der Zeitschrift, welches man bereits in der Eingangsszene hört. An sich nichts außergewöhnliches, mag man zunächst meinen, aber es besteht tatsächlich ein hörbarer Unterschied zwischen dem Blättern in einer Zeitung und dem in einer Zeitschrift. Eine nicht gerade kleine Herausforderung stellt die akustische Skizzierung des heruntergekommenen Brügge dar. Um die ehemalige Handelsstadt mit ihren zahlreichen Kanälen für den Hörer erfahrbar zu machen, sind beispielsweise die Schrittgeräusche mit einem leichten Hall unterlegt, der dem Widerhall von den Hausmauern entspricht. Darüber hinaus ist noch ein ruhig fließender Fluß vernehmbar, auf dem ab und zu Enten aufgeregt vor sich hin schnattern. Wie es sich für ein Gruselhörspiel gehört, bekommt man nicht nur u.a. ein nahendes Unwetter, inklusive krachenden Blitzen, Donner und starkem Regen, sondern auch heulenden Wind und krächzende Krähen präsentiert. Ein wesentliches Element des Romans, dessen sich die Produzenten natürlich ebenfalls bewusst sind, ist das (auch im Hörspiel) ständig zu hörende Läuten der vielen verschiedenen Kirchenglocken der Stadt. Dieses Geräusch wird, neben dem Aufruf zum Gebet bzw. dem Appell, in die Kirche zu kommen, oftmals mit Beerdigungen und somit dem Tod assoziiert.
Ich bin immer wieder erstaunt, wie unterschiedlich man doch Halleffekte einsetzen kann. Da ist zunächst der Nachhall der Stimmen innerhalb des Hausflurs bzw. innerhalb des Klosters, um die Größe der jeweiligen Räumlichkeiten darzustellen. Zusätzlich gibt es aber noch einen unterschiedlich laut eingespielten Effekt, der dafür sorgt, daß man als Hörer glaubt, die verschiedenen Stimmen kämen von allen Seiten und würden sich erst nähern, um sich dann wieder zu entfernen. Einen wiederum ganz anderen Eindruck hinterlässt der weit ausufernde Hall, mit dem das boshafte Frauenlachen verfremdet wurde. Dieser kann wahlweise in Zusammenhang mit der Vergangenheit, oder wie in diesem Fall, mit dem Jenseits gebracht werden.
Zu den Sprechern:
Obwohl es sich hier um die Vertonung eines Romans handelt, kommt Titania Medien, genau wie Rodenbach, mit erstaunlich wenigen Figuren aus. In seinem Buch treten sogar nur vier Akteure auf, während es im Hörspiel, inklusive Erzähler, immerhin neun sind. Peter Weis(Erzähler) ist einfach ausgezeichnet in seinem Part. Die raue Stimme passt hervoragend zum Sujet des alten Brügge, und die punktgenaue Betonung, in Kombination mit der Musik, harmoniert derart, daß der Eindruck einer Art Sprechgesang entsteht. Highlight und gleichzeitig die Hauptfigur ist Michael-Che Koch(Hugo Viane) als schwermütiger, tief trauriger Witwer. Es ist nicht übertrieben zu sagen, daß gerade sein intensives Spiel das Hörspiel zu einem überzeugenden Ganzen machen. Sein Portrait des leidenschaftlichen und doch immer irgendwie verloren wirkenden Mannes ist absolut fesselnd. Als Hörer klebt man förmlich an seinen Lippen. Die Szenen, in denen er die Bildern seiner Frau liebkost, haben mich stark berührt und werden mir noch lange im Gedächtnis bleiben. Ihm gegenübergestellt ist Eva Michaelis(Die Tote/Jane Scott), die ihre Stimme der Verstorbenen und der Ballerina leiht. Ihre lebendige, jederzeit überzeugende Darstellung der beiden komplett unterschiedlichen Frauen ist makellos. Mal spricht sie die aus dem Jenseits klagend rufende Tote mit tränenerstickter Stimme, nur um in der nächsten Szene mit herablassendem Ton die von Hugos Umgarnungen amüsierte, leicht affektierte Künstlerin zu geben. Es macht viel Spaß, ihr dabei zuzuhören, wie sie nach und nach ihre Maske fallen lässt und ihr wahres Wesen zum Vorschein kommt. Doch nicht nur Michaelis weiß zu begeistern, auch Herma Koehn(Barbe) füllt ihre Rolle als alte Dienerin, die zwar großes Verständnis für ihren Herrn zeigt, aber deren Religiosität es ihr unmöglich macht, über alles hinwegzusehen, was geschieht, zur vollkommenen Zufriedenheit aus. Dana Fischer(Nachbarin) und Silke Horvath(Nachbarin) intonieren die beiden Frauen mit den scharfen Zungen, die sich bei jeder Gelegenheit abfällig, mal über Hugo, mal über Jane äußern. Ingeborg Kallweit(Schwester Rosalie) legt einen strengen Ton in ihre Stimme, wenn sie Barbe ermahnt und vor der ewigen Verdammnis warnt. Marc Gruppe(Opernbesucher/Priester) hat diesmal gleich zwei Rollen übernommen und wird beiden gerecht. Zunächst stellt er den von der Aufführung begeisterten Fan dar, der nicht nur bereitwillig über Jane Auskunft erteilt, sondern darüber hinaus Hugo noch ermuntert, dieser nachzustellen. Später hat er noch zwei weitere Auftritte, dann aber als Geistlicher, der zunächst mit gemessener, gedämpfter Stimme die verunsicherte Barbe beruhigt, um später eine flammende Predigt wider den sündigen Umgang zu halten.
Fazit:
Brügge ist Hugo Vianes Tote, und die Tote ist Brügge.
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