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Rezension: Sherlock Holmes - 42 - Der Tote im Extra-Waggon

Verfasst: Do 12.11.2020, 14:00
von MonsterAsyl
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Sherlock Holmes - 42 - Der Tote im Extra-Waggon

Zum Inhalt:
Eigentlich wollten Sherlock Holmes, Dr. Watson und Inspektor Lestrade zusammen einen Landausflug machen. Doch in dem Zug, der gerade am Bahnhof einläuft, gab es einen rätselhaften Todesfall. Die Umstände, also die geschlossene Abteiltür und das ebenfalls geschlossene Fenster, deuten zwar zunächst auf Selbstmord hin, aber von einer Waffe fehlt jede Spur. Stattdessen findet sich kurioserweise lediglich ein zerbrochenes rohes Ei in dem Abteil. Für Inspektor Lestrade ein vernachlässigenswertes Detail, für den Meisterdetektiv jedoch das entscheidende Indiz, daß es sich hier um Mord handelt.

Zur Produktion:
Bereits seit der 34. Folge adaptiert Skriptautor Marc Gruppe, abgesehen von zwei Ausnahmen (SH 35 & 41), die Ronald Standish-Kurzgeschichten des britischen Autors Herman Cyril McNeile (28.09.1888 - 14.08.1937) für diese Reihe. Auf die Parallelen zwischen McNeiles Detektiv und Doyles Figur bin ich in der Vergangenheit schon ausführlich eingegangen, und trotz vieler Übereinstimmungen eignen sich die Geschichten nicht immer gleich gut, sie zu Abenteuern des weltbekannten Meisterdetektivs umzuschreiben. Bei "Mystery of the Slip Coach", so der englischsprachige Originaltitel, erstmals erschienen in dem 12 Kurzgeschichten umfassenden Sammelband "Ronald Standish", verlegt von Hodder and Stoughton Limited im Jahr 1933, handelt es sich meiner Meinung nach um die bisher in jeder Beziehung gelungenste "Neufassung".
Das liegt nicht zuletzt an dem interessanten Fall, der selbst einen Sherlock Holmes herausfordert.
Die Handlung ist schon bei McNeile in zwei Blöcke aufgeteilt, die Untersuchung des Abteils am Bahnhof und die sich anschließenden Ermittlungen in London und Umgebung, eine Trennung, die auch Skriptautor Marc Gruppe übernommen hat. Neu hinzugekommen ist lediglich das Intro, also die Idee, daß Holmes zusammen mit Lestrade und Watson einen Ausflug macht, und das sich darauf beziehende Outro am Ende des Hörspiels.
Wer die Charaktere kennt, wird diesen Einfall vielleicht etwas irritierend finden, denn schließlich sind die drei nicht gerade beste Freunde. Das ist natürlich auch Gruppe bewusst, und er spielt sogar mit dieser "Ungereimtheit", indem er Watson fragen lässt, was das denn solle. Um sich selbst jegliche Erklärung zu sparen, lässt es der Skriptautor aber gar nicht erst zu einer Antwort kommen und leitet stattdessen in die eigentliche Handlung über. Ich vermute stark, daß Gruppe lediglich einen halbwegs plausiblen Vorwand suchte, um das Trio am Handlungsort, dem Bahnhof, zu vereinen. McNeile macht sich diese Mühe erst gar nicht, bei ihm sind alle drei einfach da.
Von Intro und Outro mal abgesehen, hat Gruppe inhaltlich nichts an der Geschichte verändert. Um den Ablauf für den Hörer angenehmer zu gestalten, hat er jedoch etliche Textpassagen, die ursprünglich nur von einer Figur gesprochen oder erzählt wurden, zu Dialogen bzw. Spielszenen umgeschrieben, was das Geschehen gleich sehr viel aktiver und lebendiger wirken lässt. Auch der Humor kommt hier nicht zu kurz, und nicht nur die Wortgefechte zwischen Dr. Watson und Lestrade sorgen für so manches Schmunzeln beim Hörer. Wie üblich wurden zwar einige Sätze leicht verändert, um sie den heutigen Hörgewohnheiten anzupassen, und auch der ursprünglich vorhandene Akzent des Schaffners ist auf diese Weise verschwunden, aber die Kernaussagen bleiben selbstverständlich erhalten. Lediglich die Abfolge der einzelnen Punkte bei der Auflösung hat Marc Gruppe leicht abgewandelt, was aber nur dazu führt, daß sie nachvollziehbarer und somit logischer klingt als bei McNeile. Debattierbar wäre lediglich seine doch eher einfache Erklärung für das geschlossene Fenster, welches von McNeile ziemlich umständlich beschrieben bzw. erläutert wird. Wer nun eigene Vergleiche zwischen dem englischen Originaltext und dem Hörspielskript anstellen möchte, findet die Geschichte im Internet unter http://gutenberg.net.au/ebooks06/0607761h.html.
Obwohl ich Gruppes Skript überaus gelungen finde, gibt es eine für die Handlung allerdings völlig unwichtige sprachliche Kleingkeit, welche mich irritiert hat. An einer Stelle spricht Lestrade davon, "das Yard", statt "den Yard" zu informieren. Das hört sich für mich zumindest ungewohnt an, aber möglicherweise ist diese Formulierung ja grammatikalisch gesehen die richtigere? Wie schon gesagt, für den Ablauf des Geschehens ist das total unwichtig. Mich haben die knapp 70minütige Geschichte und das damit verbundene Rätsel um das rohe Ei jedenfalls bis zum Schluß gefesselt.
Im Gegensatz zur ihrer Reihe "Gruselkabinett", bei der eigentlich jede Szene auch musikalisch unterlegt wird, verfahren die Produzenten und Regisseure Stephan Bosenius und Marc Gruppe hier ein wenig anders. Nach der gewohnten und hinlänglich bekannten schönen Titelmelodie ist in der ersten Hälfte des Hörspiels keine weitere Musik mehr zu hören. Lediglich ein paar düstere Synthesizertöne werden ab und zu eingespielt, um die Untersuchungen am Tatort zu akzentuieren. Erst als sich die Handlung in die Bakerstreet verlagert, ertönt zum Übergang eine ebenfalls bereits bekannte fröhliche Weise, die von einer weiteren wohlklingenden Melodie abgelöst wird. Danach setzt die Musik wieder aus und erst gegen Ende des Hörspiels, während des dramatischen Kampfes, ist nochmal ein treibendes Musikstück zu hören. Zum Ausklang des Hörspiels, quasi zur Verabschiedung des Hörers, gibt es dann ganz am Schluß noch eine entspannende Klavierpassage. Ich empfinde diese "Zurückhaltung", was den Einsatz der Musik angeht, als ganz erfrischend und bin auch der Meinung, daß es die Aufmerksamkeit des Höreres in Bezug auf die Geräuschkulisse erhöht.
Diese kann sich, wie üblich, mehr als hören lassen. Schon der ländlich gelegene Bahnhof ist erfüllt von den unterschiedlichsten Tönen. Die einfahrenden, ratternden Züge und deren schrilles Pfeifen, die Gesprächsfetzen oder das Rufen der Menschen auf den Bahnsteigen, die über sie hinwegfliegenden Krähen, der gelegentlich bellende Hund, all das formt ein vollständiges und mehr als befriedigendes akustisches Bild des Handlungsortes im Ohr des Hörers.
Gleiches gilt auch für die klangliche Darstellung des berühmten Konsultationszimmers in der Bakerstreet. Im Hintergrund sind ganz dezent die Straßengeräusche, bestehend aus vorbeifahrenden Kutschen und geschäftigen Menschen, zu hören, und innerhalb des Raumes kann man jedes Stuhlrücken, Rascheln der Kleider oder das Umblättern der Zeitung mitverfolgen. Besonders hervorheben möchte ich hier den kleinen, aber feinen und durchaus hörbaren Unterschied bei dem Eingießen der verschiedenen Flüssigkeiten. Andere Produzenten würden hier einfach das gleiche Geräusch zweimal einspielen. Marc Gruppe und Stephan Bosenius gehen allerdings einen Schritt weiter. Man hört ganz genau, ob eine Tasse Tee eingegossen wird oder ob Scotch ins Glas fließt. Ich wage sogar zu behaupten, daß man bei Letzterem allein anhand des Geräusches erkennen kann, wieviel ins Glas gefüllt wird.
Wie gewohnt kommen die Effekte nur selten und sehr zurückhaltend zum Einsatz. So rattert beispielsweise der durchfahrende Zug, je mehr er sich dem Bahnhof nähert, immer lauter, um dann wieder leiser zu werden, sobald er die Station passiert hat. Ebenso wird auch mit den Sprechern verfahren, welche unterschiedlich laut ein- oder ausgeblendet werden, je nachdem, ob sie auf den Hörer zukommen oder sich von ihm entfernen.

Zu den Sprechern:
Erstaunlicherweise ist dies eine Folge, bei der Joachim Tennstedt(Sherlock Holmes) sympathischer wirkt als sein Freund und Chronist Detlef Bierstedt(Dr. John H. Watson). Das liegt vor allem daran, daß er Watson ständig ermahnt, sich freundlicher gegenüber Inspektor Lestrade zu verhalten und sich sogar dazu hinreißen lässt, den guten Doktor zu loben. Erst als er barsch nach Mrs. Hudson schreit und sich dabei extrem aufspielt, scheint er wieder der Alte zu sein. Aber selbst das stellt sich hinterher als Finte heraus. Nach dem neutralen Intro, welches immer zu Beginn der Folgen zu hören ist, verhält sich Bierstedts Charakter sogleich extrem muffelig. Er zieht Lestrade auf, wo er nur kann und lässt sich sogar zu direkten Beleidigungen hinreißen. Erst als sich Holmes ihm gegenüber anerkennend äussert, agiert er wieder, wie man es von der Figur eigentlich gewohnt ist. Auch das Verhalten der selbsbewussten Vermieterin und Haushälterin Regina Lemnitz(Mrs. Hudson) fällt ein wenig anders aus als sonst. Zwar ist sie zunächst der Meinung, den Täter zu kennen und vertritt ihre These auch vehement, muss sich dann aber schnell eines Besseren belehren lassen, und der von Holmes ausgesprochene Tadel hinterlässt die sonst so schlagfertige Dame geradezu peinlich berührt. Von den stets wiederkehrenden Figuren hat mir aber diesmal Lutz Reichert(Inspektor Lestrade) am besten gefallen. Reichert ist einfach klasse im Part des immer diensteifrigen, aber leicht begriffsstuzigen Polizeibeamten, der kaum zu Wort kommt und mehrfach von Holmes' Extravaganzen irritiert ist. Demgegenüber spielt David Nathan(Stationsvorsteher) den Bahnbeamten mit verinnerlichter dienstlicher Gelassenheit, der erst aus seiner Lethargie erwacht, als klar ist, daß er nicht mehr benötigt wird. Patrick Bach(Schaffner Joe) leiht seine Stimme dem hilfsbereiten Zugbegleiter, der für die Abkoppelung des Waggons zuständig ist, und Horst Naumann(Reverend John Stocker) spricht den von den Anschuldigungen verblüfften Geistlichen. Ihm zur Seite steht Ursula Wüsthof(Mrs. Stocker) als seine resolute Ehefrau, die ihre Sätze gern mal unvollendet lässt, um sich unangenehme Details zu ersparen. Patrick Stanki(Harry Carter) überzeugt in seiner Rolle des aufgeregten, hörbar verunsicherten jungen Mannes mit dem passenden Tatmotiv, und Jürgen Thormann(Major Blackton) macht einfach nur Spaß als herblassender, herrischer älterer Armeeoffizier, der Lestrade herunterputzt. Bert Stevens(Arzt) ist der höfliche Doktor, der sich bemüht, seine Untersuchungen so schnell wie möglich zu erledigen, und Bodo Primus(Mr. Meredith) glänzt als trinkfreudiger, gutgelaunter älterer Mann.

Fazit:
Auch wenn der Fall nicht aus Doyles Feder stammt, ist er dem Meisterdetektiv mehr als würdig.

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