XXX Der "Brexit" XXX
Erstaunlich wie sehr die demokratische Entscheidung eines Volkes, die in keinster Weise agressiv oder gefährlich ist, in anderen Ländern "Schockstarre" verursachen kann. Anstatt schockiert zu sein ist man aber meist besser beraten die Sache einfach mal nüchtern zu betrachten.
Also, was ist eigentlich passiert ?
Tatsächlich ist mit der englischen Volksabstimmung doch ledeglich etwas nicht mehr leugbares sichtbar geworden, was EU Ideologen nur zu gerne unter den Teppich kehren oder übersehen haben:
- Daß viele Briten den Wert der Demokratie schätzen, den "Wert" (?) der Fremdbestimmung durch ein unsichtbares, anonymes europäisches Parlament aber nicht.
- Daß sie die Nase voll haben von bevormundender Politik, die entweder keinen Sinn ergibt, oder deren Sinn nicht kompetent vermittelt wird: Vom berühmten Krümmungsgrad der Salatgurke, über die Frage, wie man das eigene Wohnzimmer beleuchten darf, bis zum Seilbahngesetz für Länder ohne Seilbahnen.
- Daß sie es nicht sehr prickelnd finden, daß das Vermögen der Briten über den Kanal der EU teilweise ins Ausland transferiert wird.
- Daß die Wachstumsgeschwindigkeit der EU in geografischer und Kompetenzhinsicht deutlich schneller von statten geht, als daß die Menschen sich daran geistig und tatsächlich anpassen können. Das Streben der menschlichen Natur nach Stabilität und Routine in der Lebensumgebung ist nämlich ein enormer Überlebensvorteil, der Energieverluste durch ständige Neuanpassung vermeidet. Deshalb sind Menschen vor tausenden von Jahren überhaupt erst sesshaft geworden.
- Daß sie sich durch den starken, ruckhaften Zustrom von Zuwanderern aus oft armen und sehr unterschiedlich gearteten Kulturkreisen bedroht fühlen. Daß der Zustrom für viele Briten Wettbewerbsverschlechterungen auf Arbeits-, Wohnungs und Medizinmärkten bringt, ohne daß sie zu denjenigen gehören, die eventuell von diesen billigen Arbeitskräften profitieren.
- Daß sie sich ungerecht behandelt fühlen, wenn solche Zuwanderer ohne vorherige Leistungseingabe in die Sozialsysteme die gleichen Vorteile genießen, wie die, die schon sehr lange diese Systeme am Laufen halten und sich im Gegensatz zu den Eingeborenen dabei sogar noch verbessern können, da sie per Lebenslauf einen viel geringeren Lebensstandard gewohnt sind.
- Daß sie mit eigener Währung zusehen können, wie eine zentrale Verkörperung der EU, nämlich ihr EURO, desaströse Nebenwirkungen aufweist: So wurde er eben auch zur Grundlage des "Teuro", wurde zum Element, an dem sich jahrzehntelange Schlamperpolitik der Griechen manifestieren konnte, wurde zum Schreckensbild einer vernichtenden Sparpolitik, obwohl nicht die Währung die griechische Dauerkatastrophe ausgelöst hat, sondern der Umgang mit ihr. Und nicht zuletzt wurde der EURO eben auch zu der Währung, die das jahrhundertealte Geschäftsmodell der seriösen Sparsamkeit, des Konsumverzichtes für höhere Ziele und des Vermögensaufbaus durch Verzinsung mal eben über Nacht abgeschafft hat.
- Und seien wir mal ganz ehrlich: mit Sicherheit waren die schockierenden, weil nicht beherschbaren Ströme von Asylsuchenden aus Syrien und anderen Erdteilen, und die folgenden Alleingänge der Mitgliedsländer in beiderlei Extreme ein weiterer wichtiger Punkt, der die Meinung der Briten geformt hat.
- Sichtbar wurde auch, daß die EU auf Vereinbarungen und Verträgen basiert, die im Zweifel nicht das Papier wert sind, auf dem sie gedruckt wurden. Von verletzten Konvergenzkriterien über verbotene Querfinanzierung fremder Staatshaushalte bis hin zu Grenzen, die nach Willkür mal gelten, und mal nicht. Mit diesem Regelverstoß durch die Regelmacher hat die EU enorm viel Vertrauen bei ihren Einwohnern verspielt.
- Und nicht zuletzt: Daß die EU das hehre Ziel der EG, Frieden und Wohlstand in Europa zu schaffen, verraten hat und stattdessen krakenhaft immer mehr Kompetenzen und Vorrechte an sich zieht, die zur Erreichung dieses absolut richtigen Zieles gar nicht notwendig sind.
So sieht's aus. DAS ist passiert.
Eine Abfuhr an ungerechte Bevormundung, ein Wunsch nach mehr Gewichtung der eigenen Interessen. Die Sehnsucht nach mehr eigener Kontrolle der Lebensumstände.
Sicher, ist man ehrlich, so war das britische Votum auch eine Abfuhr an etablierte politische Kräfte, ein hangeln nach "der guten alten Zeit", die per Volksentscheid herbeigezwungen werden soll.
Aber es war nicht im geringsten ein schlechter Zug von "Spielverderbern", "Idioten" oder gar "Verrätern". Ein solches Vokabular ist völlig unangemessen.
Darf man derart scharf fabulierende Herrschaften mal daran erinnern, daß die Engländer schließlich ein souveränes Volk mit Recht auf Selbstbestimmung durch Demokratie sind. War es nicht das, was wir Deutschen so gerne plakativ vor uns hertragen und in alle Welt verkaufen wollen ?
Und sind wir Deutschen nicht stolz und froh über unsere politische Machtverteilung nicht nur in Judikative und Exekutive, sondern auch in Bundesländer und Gemeinden ? Warum haben wir denn Bundes-TAG und Bundes-RAT ? Damit sich furchtbare Ergeignisse der Vergangenheit nicht wiederholen, und damit es bei Fehlentwicklungen in einem Machtbereich einen weiteren Machtbereich gibt, der dies korrigieren kann. Wer aber soll eine Fehlentwicklung im Leben der Bürger durch die "Vereinigten Staaten von Europa" noch effektiv korrigieren, wenn von 28 bzw. 27 Meinungen tatsächlich nur noch eine übrig bleibt ?
Wenn also die Deutschen als "Musterdemokraten" und "Mustereuropäer" nicht Ihre Glaubwürdigkeit völlig verlieren wollen, ist jetzt die Zeit über die oben genannten Ursachen der aktuellen Entwicklung nachzudenken UND zu handeln. Lippenbekenntnisse werden freiwillig und kostenlos kommen, hübsch "verpackte" Nichtigkeiten eventuell auch. Aber kommen auch wirklich spürbare Besinnungen auf verbriefte und eventuell nicht verbriefte Grundrechte der EU Bürger - oder bleibt es beim...
"Vorwärts immer- rückwärts nimmer" ?
Was in der ganzen Diskussion in den Medien, aber auch bei Kongula verstörend auffällt ist, daß viele Menschen, die die britische Entscheidung für einen Fehler halten, zumeist mit rein wirtschaftlichen Argumenten aufwarten.
Demokratie ? Hat keine Währungseinheit.
Selbstbestimmung ? Geld bestimmt die Welt.
Wahrung der eigenen Interessen ? Es gibt nur finanzielle Interessen.
Verschwundenes Vertrauen in die EU ? Laß Dir dein Vertrauen doch erkaufen.
Ziemlich bedenklich, wenn diese Denkrichtung Schule macht...
Und was nun aus England wird ist keineswegs in Stein gemeißelt.
Wenn die Engländer weise sind, werden sie jetzt entschieden die neuen Chancen nutzen, die sich neben den neuen Gefahren eben auch ergeben haben:
- Viele Mediensprecher haben schon die EU Unterstützungen für England erwähnt, die jetzt furchtbarerweise ausfallen werden. Doch entgegen diesen Rechenkünsten von Klein-Erna sind die Briten ja immer noch Nettoeinzahler. Was man ihnen bisher als Unterstützung schenkte, mussten sie ja schließlich zuvor selbst finanzieren. Die Kohle, die sie nun nicht mehr nach Brüssel schicken müssen, können sie schliesslich genausogut selbst als Investitionen in die Zukunft tätigen. Dies hat sogar noch den Vorteil, daß die Verwaltungskosten für solche Investitionen in der eigenen Volkswirtschaft hängen bleiben. Mit ca. 5 Milliarden EURO im Jahr kann man ja schon einiges anstellen...
- Um vom Freihandel zu profitieren, muß man nicht zwangsläufig EU Mitglied sein. Freier Warenaustausch ohne Zölle ist genausogut durch entsprechende zwischenstaatliche Verträge möglich, wie sie auch in anderen Erdteilen existieren. Alternativ kann der Freihandel sogar schlichtweg durch de Facto Gesetzgebung ermöglicht werden. Natürlich sind die Engländer gut beraten den Freihandel anzustreben, da eine Abschottung der eigenen Volkswirtschaft nur kurzfristig Vorteile bringt, langfristig aber schädliche Letargie erzeugt.
- Wenn es die Engländer schaffen ein reibungsstarkes Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen in ihrem Heimatland zu vermeiden, vermeiden sie damit auch die Kräftebindung die solche Konfrontationen verursachen. Gegenüber anderen Ländern ein klarer Wettbewerbsvorteil (Durch das Einwanderungsrecht für Bürger aus Commonwealthstaaten ist dieses Argument aber eventuell bedeutungslos. So tief sind meine Kenntnisse über die englische Gesellschaft leider nicht)
- Fällt das Gefühl weg durch die EU ungerecht behandelt zu werden (Siehe oben) ergibt sich die Chance auf verstärktes "ziehen an einem Strang". Glaubwürdige Spitzenpolitiker könnten die Kreativität und das Vertrauen in die Zukunft in einer nicht so rosigen Gegenwart (wie in Wales und den Midlands) verstärken. Für eine Nation ohne irrsinnige Bodenschätze können solche unsichtbaren Humankräfte entscheidend sein (Ob es die englische Politik tatsächlich schafft derart glaubwürdig zu werden, ist freilich ein anderes Thema, aber eine Chance ist es allemal)
- Keine neue Chance, aber schon immer ein natürlicher Vorteil der Briten ist die banale Tatsache in der eigenen Muttersprache auf der ganzen Welt Geschäfte machen zu können. Mit Englisch kommt man überall durch (Na ja, vielleicht nicht so sehr in "la grande Nation", he he)
- Im Übrigen wurde oft erwähnt wie sehr die Wahlmeinung vom Lebensalter abhing, daß je jünger desto häufiger für den Verbleib in der EU gestimmt wurde. Daher ist der Brexit eventuell sowieso nur ein Intermezzo, und das Thema "EU - ja oder nein" kommt in England in 20, 25 Jahren wohl sowieso wieder auf Tapet.
Somit ist die Zukunft Englands noch lange nicht festgelegt. Nicht im Schlechten und nicht im Guten. Wie immer hängt es davon ab, was man daraus macht. Aber die Chance ist da die Karten neu zu mischen.
Und wenn die EU nun genau das gleiche täte, wenn auch sie sich nicht länger einer Erneuerung verschlösse und den nächsten Abspaltungskandidaten bessere Gegenargumente lieferte, so könnten in einer rosaroten Zuckerwattenzukunft sogar beide Seiten
von dieser "Krise" profitieren.